Zeitforscher Karlheinz Geißler weiß, warum manch einer mit zu viel Zeit Probleme hat.

von Susanne Mauthner-Weber, Kurier, 28.03.2020

 

Karlheinz Geißler sagt Sätze wie: „Die Chefhektiker wer- den ihre Probleme haben.“ „Langsam zu sein, wurde bestraft.“ Oder: „Die Herrschaft des Terminkalenders bröckelt.“

Lange Universitätsprofessor für Wirtschaftspädagogik, beschäftigt sich der deutsche Forscher seit vielen Jahren intensiv mit allen Aspekten der Zeit, betreibt in München ein Institut für Zeitberatung und ortet schon länger tief greifende Veränderungen.

In seinem aktuellen Buch Die Uhr kann gehen (Verlag Hirzel, 19,80 Euro) prophezeite er im Vorjahr das Ende von Pünktlichkeit und Uhr-Diktat. Die aktuellen Ereignisse rund um das Coronavirus und die damit verbundene Zwangsentschleunigung scheinen ihm recht zu geben. Ein Gespräch über Faulheit, Let-it-be-Listen und eine bessere Gesellschaft.

KURIER: Die meisten Menschen haben derzeit noch weniger Probleme mit dem Kranksein als vielmehr mit den Begleiterscheinungen. Zu viel Zeit spielt da bei manchen eine Rolle. Warum macht vielen die Zwangsentschleunigung Probleme?

Zeitforscher Geißler: Weil wir zu schnell gelebt haben. Wir haben die langsamen Lebensformen – das Warten, das Pausemachen, das Langsamsein – verlernt und verlernen müssen. Langsam zu sein, wurde bestraft. Wer mit seiner Schulaufgabe bis zum Ende der Stunde nicht fertig ist, bekommt schlechte Noten. Darum trifft die Zwangsentschleunigung jene besonders,die Zeitdruck für das Normale gehalten haben.

Und ihre Wichtigkeit daraus bezogen haben?
Genau! Die, die immer gesagt haben: „Tut mir leid, keine Zeit!“ Und daraus ihre Wichtigkeit aufgebaut haben. Menschen, die Zeitpunkte planen und nicht Zeiträume, die haben es jetzt schwer. Die Chefhektiker werden ihre Probleme haben.

Es gibt aber auch Leute, die die Entschleunigung gerade sehr genießen. Welche Typen sind das?
Im Vorteil sind jene, die ihr Leben nicht nach der Uhr, sondern nach ihrer eigenen Natur, nach den Zeitsignalen ihres Körpers, gestalten können.

Alleinerzieherinnen werden jetzt bestenfalls milde lächeln: Nach der inneren Uhr leben, ist für Menschen, die Homeoffice, Haushalt und Kinderbetreuung samt Unterricht unter einen Hut bringen müssen, ein Hohn …
… ja, die verordnete Entschleunigung bedeutet für manche mehr Zeitdruck, weil die Betreuungseinrichtungen wegbrechen. Das gilt auch für die Leute in den Krankenhäusern und an den Supermarktkassen.

Sie meinen, es könnte helfen, unsere To-do-Listen wegzu- werfen und stattdessen Let- it-be-Listen (Lass-es-sein-Listen) zu schreiben. Wie können die ausschauen?
Alles aufschreiben, was man morgen nicht tut! Wenn man das umgesetzt hat, wieder eine Liste mit den Dingen schreiben, die man noch sein lassen kann. Wenn man auch die Let-it-be-Listen weglassen kann, ist man am Ziel.

Ein Appell also, Perfektionismus und Unwichtiges sein zu lassen?
Genau: Wir sind eine Gesellschaft, die immer mehr tun wollte, musste und sollte. Das Seinlassen haben wir als Müßiggang und Faulheit diskreditiert. Und das ist falsch. Denn das Seinlassen kann durchaus sehr produktiv sein.

Inwiefern?
Es wirft uns auf uns selbst zurück. Wir flüchten permanent vor uns selbst. Das führt uns ins Burnout. Die Nähe zu uns bringt letztlich Zufrie- denheit.

Klingt toll. Es gibt Zukunftsforscher, die für nach der Krise sogar eine andere – bessere – Gesellschaft prognostizieren …
… ja, aber welche? Es stimmt: Erfahrungen, die man am eigenen Leib spürt, prägen das zukünftige Verhalten. Daher verspreche ich mir einiges davon. Unsere Gesellschaft ist reich. Man muss nicht alles revolutionieren, könnte aber daran denken, das Geld anders zu verteilen als es bisher üblich war. In Deutschland etwa sind Zigmilliarden bereitgestellt worden. Für die Wirtschaft. Aber für die Leute im Krankenhaus oder an der Supermarktkasse nicht. Man könnte denen, die sich dort halb totschuften, doppeltes Gehalt geben.Nein, die Autoindustrie bekommt es. Vielleicht lassen sich jetzt auch ein paar andere Probleme lösen. Zum Beispiel auch ökologische. Eigentlich bleibt uns gar nichts anderes übrig, denn wir sind abhängiger von der Natur, als wir dachten. Nicht vergessen: Auch das Coronavirus ist ein Naturphänomen.

 

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