Ein Artikel von Karlheinz Geißler, erschienen in der Zeitschrift Universitas 11/2022)

„Die Leute wissen was sie tun; häufig wissen sie, warum sie das tun, was sie tun; was sie aber nicht wissen, ist, was ihr Tun tut“. (Michel Foucault)

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Am 20. November 2022 beginnt im Golfstaat Katar die 22. Fußballweltmeisterschaft. In Deutschland startet sie demnach am Totensonntag und endet drei Tage vor Winterbeginn und sechs Tage vor Heiligabend. Vieles ist bereits darüber berichtet worden, von den Bestechungsvorwürfen bei der Vergabe der Spiele über die vielen Toten auf den Stadionbaustellen bis hin zu den diskriminierenden Gesetzen gegen Frauen und Homosexuelle und die mutmaßliche Unterstützung von Terrorgruppen.

Karlheinz Geißler interessiert allerdings das bisher Unthematisierte. Bei den meisten Spielen wird es eine Nachspielzeit geben. Es wird sie geben, ohne dass geklärt wäre, ob man Zeit überhaupt nachspielen kann. Die Betrachtungen des Zeitforschers sind so originell, dass viele Fußballfans sie vermutlich als satirisch überzeichnet betrachten würden. Dass der Nach- spiel-Fußball den faustischen Traum am Leben hält, der Tod hätte nicht das letzte Wort, die menschliche Vergänglichkeit könne, wenn schon nicht überwunden, so doch durch einen Zeitzuschlag hinausgezögert werden, ist ein Gedanke, der auf die Quintessenz seiner Überlegungen hinführt: Die Wahrheit liegt nicht auf dem Platz und vermutlich auch nicht darunter, sondern tiefer. Wenn man also in Erfahrung bringen will, was echte Nachspielzeit ist, sollte man mal wieder auf einen Friedhof gehen, um jenen nahe zu sein, die dort, gestrichen aus dem Gästebuch der Zeit, ihre nach oben offene Nachspielzeit zubringen.

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Vieles macht der Mensch weil er es kann, anderes macht er, ohne sicher zu sein, ob er es wirklich kann. Dazu gehört das Zeitsparen und dazu gehört auch das Nachspielen von Zeit. Dies ist inzwischen nicht nur in England, dem Mutterland des Fußballs, übliche Praxis, sondern auch in Deutschland, wo diese Institution „Nachspielzeit“ heißt. Lassen sie uns von der Tribüne auf das Spiel zweier um den Ball rivalisierender Mannschaften schauen, um eine Antwort auf die Frage zu finden, ob man Zeit wirklich nachspielen kann. Fußballspieler und Fußballfans stellen sich diese Frage nicht. Für diese ist sie beantwortet, weil es sie gibt und weil sie praktiziert wird. Den Fans im Stadion mag dies genügen, außerhalb des Stadions befriedigt dieses Argument nicht jeden und jede.

Machen wir daher aus der Normalität der Nachspielzeit etwas Erstaunliches. Gehen wir zu ihr auf Distanz, wundern und fragen wir uns, warum es beim Schicksalsdrama „Fußball“ eine Nachspielzeit gibt, im wahren Leben aber nicht? Die Antwort verlangt, um an Erfahrungen und Erkenntnissen reicher zu werden, den Besuch eines Fußballmatches in einem Stadion. Nicht, um sich dort von schwitzenden Männern oder Frauen unterhalten und aufzuregen zu lassen oder um unter Sportgenossen zu sein, die sich aufregen, vergnügen oder auch schimpfen, sondern um erkennen und beobachten zu können, wie eine Gesellschaft tickt und wie ihre temporalen Ordnungsmuster „gestrickt“ sind, in der das Fußballspiel, die „schönste Nebensache der Welt“, den Status eines Kultes besitzt.

Was den Fußball so attraktiv macht, dass er zur Sportart mit der größten Aufmerksamkeit und zu einem gesellschaftlichen Massenphänomen werden konnte, ist ein Rätsel, obgleich Erklärungen und Deutungen dafür kursieren. Viele Stadionbesucher, wahrscheinlich sogar eine Mehrheit, wissen es selbst nicht. Lassen Sie uns spekulieren: Vielleicht gehen sie ja hin, um dabei zu sein und zuzusehen, wie zwei den Sieg anstrebende Mannschaften etwas ganz und gar Ungewöhnliches tun, wie sie Zeit nachspielen. 


Nicht selten wird das Fußballspiel als Spiegelbild der Gesellschaft gesehen und verstanden. Das trifft weniger auf den Profifußball und die dort üblichen Verdienstmöglichkeiten zu, mehr hingegen für das Regelsystem. Um das nicht allzu komplexe „System“ Fußball mit der gesellschaftlichen Lebenswelt

jenseits der Stadien zu vergleichen, muss man nicht zwingend darüber informiert sein, wer auf dem Rasen gerade gegen wen spielt. Wissen aber sollte man, nach welchen Regeln das Spiel verläuft.
Franz Kafka, dem wir kluge, zuweilen aber auch Texte und Formulierungen, die man am besten mit dem Adjektiv „kryptisch“ beschreibt, zu verdanken haben, notierte am 16. Oktober 1921 in seinem Tagebuch: „Das Unglück eines fortwährenden Anfangs, das Fehlen der Täuschung darüber, dass alles nur ein Anfang und nicht einmal ein Anfang ist, die Narrheit der andern, die das nicht wissen und zum Beispiel Fußball spielen, um endlich einmal „vorwärts zu kommen.“ Auf wen oder was, fragt man sich, spielt der Versicherungsangestellte Franz Kafka mit seinem Hinweis auf die Fußball spielenden Narren, die sich mühen, „vorwärts zu kommen“, an? Er lässt uns auch in diesem Fall, wie er es oft tut, rätseln. Unterstellen wir ihm, was er häufig bewiesen hat, große Fähigkeiten zum Weitblick, könnten wir annehmen, dass seine Bemerkung, lange bevor sie geschrieben wurde, auf die Regelergänzung „Nachspielzeit“ bei den Fußball spielenden Narren zielt. Und dass er die Frage aufwirft, wieviel heimlicher Wahnsinn eigentlich in der schlichten Normalität des Fußballspiels – 2 x11 Spieler, zwei Tore, ein Ball – verborgen ist? Fragen wir den Zeitgeist. Die Nachspielzeit kennt jeder Fußballfan, niemand aber wundert sich, keiner fragt: Gibt es die eigentlich? Wohin kommt man – „vorwärts“ wie Kafka mutmaßt – oder wohin sonst, wenn man Zeit nachspielt?

Eignet sich die Zeit eigentlich für das Abenteuer eines Nachspiels? Kann man mit Zeit so verfahren, wie Väter oder Mütter es tun, wenn sie ihren Nachwuchs in eine Karre setzen, diese ans Fahrrad hängen und damit in die Kita fahren? Eine Frage, die sich seit einigen Jahrzehnten – genau: seit 1987 – weniger den Spielern als aufmerksamen und zeitbewussten am Rande des Spielfeldes stehenden Beobachtern des Fußballspiels stellt. Stadionbesucher sind mit diesem Rätsel ebenso konfrontiert wie die große Zahl von Fußballfreunden vor den Bildschirmen „draußen im Lande“ (Helmut Kohl). Trübt die emotionale Anteilnahme an der Kickerei ihnen nicht den kritischen Blick und den wachen Geist, dann stellt sich die Frage: Wie lange dauert ein Fußballspiel eigentlich, wenn die gewohnte Zeitordnung entgleist und es nicht mehr sicher ist, dass, wie es die Regel vorschreibt, der Schiedsrichter nach 90 Minuten durch drei deutliche Pfiffe das Ende des Spiels mit dem Ball verkündet? Es handelt sich da- bei um eine weitreichende, geradezu existentielle Frage, auch, weil sich im einst harmlosen und relativ einfachen Fußballspiel gesellschaftliche Dynamiken und Verhältnisse wie in einem Brennglas konzentrieren und spiegeln. Das Fußballspiel ist nämlich ein Abbild unserer real existierenden Leistungsgesellschaft, ihrer Mysterien, Stimmungen und ihrer Trends. Grund genug, die kurz vor der Jahrtausendwende beschlossene Einführung des Schicksaldramas „Nachspielzeit“ ins offizielle Regelwerk des Spielgeschehens nicht unkommentiert und unbefragt zu lassen.

Die Arenen des Sports, in denen die Dramen der Nachspielzeit aufgeführt werden, sind privilegierte Orte. In ihnen dürfen die Spielräume und die Verheißungen menschlicher Körper und ihr durch Regeln eingezäuntes Aufeinandertreffen öffentlich gezeigt, verhandelt und ausprobiert werden. Beim Spektakel eines Fußballspiels hetzen 22 Spieler, gut bezahlte Fußwerker, einem Ball hinterher und testen dabei unter Ernstbedingungen elementare Dynamiken der Illusionsproduktion des herrschenden Zeitgeistes. Die Nachspielzeit ist dabei ein spielerisches Experimentieren mit dem, was allen Zuschauern und Zuschauerinnen bevorsteht, ihrem drohenden Ende. Im Anfangen, vor allem aber im Beenden sieht der aufgeklärte und liturgiearme Mensch der Spätmoderne die Ausformung dessen, was er „Freiheit“ nennt. Das unvermeidliche Ende, dem auch der fleißigste Zeitsparer und der kreativste Zeitmanager nicht entkommen, erschreckt und macht Angst. Die Existenz einer Nachspielzeit entlastet davon. Sie reduziert das Bedrohliche des unvermeidlichen Endes durch die Hoffnung, es ließe sich vielleicht doch noch etwas machen. Das Sportereignis „Nachspielzeit“ wird zur Probebühne eines Zeitexperiments das aus dem Substantiv „Zeitzeugen“ einen Imperativ macht. Die Arena wird zum Testlabor sozialer Ordnungs-, Disziplin- und Effizienzvorstellungen für die Welt jenseits der Stadiontore. Selbst für Zeitgenossen, die dem Fußball- spiel nicht allzuviel abgewinnen können, liefert das Geschehen auf dem Rasen dramaturgisch interessante Vor- und Abbilder.

In der Welt des Fußballs kann man, wie in der Gesellschaft auch, ins Abseits geraten und, auch das kennt die Gesellschaft, es wird jenen, die auf dem Rasen im Abseits stehen, nicht geholfen, sie werden hinge- gen für ihren falschen Standpunkt bestraft. Ohne große Diskussionen und schon gar nicht in einem demokratischen Entscheidungsprozess hat der internationale Fuß- ball beispielsweise das seit ewigen Zeiten gleich gebliebene kosmische Zeitmaß „Tag“, definiert als Abstand zwischen zwei vergleichbaren Sonnenständen, jüngst verlängert. Ein Spieltag besteht heute aus drei Wochentagen. Er dauert von Freitag bis Sonntag und manchmal sogar bis Montag.

Die Bühne des sportlichen Wettkampfes bietet das Übungsfeld, etablierte gesellschaftliche Konventionen und Regeln zu bestätigen oder sie außer Kraft zu setzen. Sie eröffnet zugleich das Experimentierfeld für ein Probehandeln, auch das für eine alternative Zeitordnung. Der hochattraktive Fußballsport liefert für die spätmoderne Wettbewerbsgesellschaft anschluss- fähige Vorlagen und Muster für das stets an Erwartungen überfrachtete Zeit- handeln und probiert es aus. Das hat bereits der große französische Philosoph Jean-Paul Sartre erkannt. Von ihm stammt die auch für die Politik zutreffen- de Erkenntnis: „Bei einem Fußballspiel kompliziert sich alles durch die Anwesenheit der gegnerischen Mannschaft“. Doch nicht nur französische Intellektuelle, auch ganz normale Stadionzuschauer sehen in dem Spiel mit dem Ball die gesellschaftlichen und zeitpolitischen Probleme und die ungeklärten Rätsel der eigenen Existenz wie in einem Brennglas zentriert. Sie sehen sie auf dem grünen Rasen abgebildet und unter teilnehmender Beobachtung verhandelt. Vor allem trifft dies auf das Zeitverstehen und den Umgang mit Zeit zu. Auf dem von Markierungen unterteilten Rasen der Arenen wird in der Gemeinschaft Gleichgesinnter emotional ausgelotet und ausgelebt, was jenseits der Sportarenen als Wunsch, Hoffnung, Illusion, Sehnsucht und uneingelöstem Versprechen existiert. Das kann deshalb in einer spielerischen Form geschehen, weil das Stadion, findet die Aufführung keinen Gefallen, problemlos verlassen werden kann. Für die gesellschaftliche Arena trifft dies nicht zu. Das Leben ist nun mal kein Spiel, das Spiel jedoch Teil des Lebens.

Mehr als ein halbes Jahrhundert sind vergangen, als der die Deutsche Fuß- ball-Nationalmannschaft 1954 zum Weltmeister-Titel coachende Trainer- fuchs Sepp Herberger die schlichte Weisheit des Fußballspiels ausplauderte: „Der Ball ist rund und ein Spiel dauert 90 Minuten“. Diese Selbstverständlichkeit ist heute keine mehr. Der Ball ist zwar immer noch rund, aber bunter, und die Zeiten des Spiels sind es auch. Wer heute am Fußballspiel interessiert ist, schaltet weder im Stadion noch vor dem Fernseher oder auf dem Tablet oder Handy ab, wenn 90 Minuten vergangen sind.

Ein Fußballspiel, von dem Herberger behauptet, dass es 90 Minuten dauert und danach abgerechnet wird, gibt es nach Ergänzung des offiziellen Regelwerks der FIFA durch die Zeitinstitution „Nachspielzeit“ nur noch in seltenen Fällen. Was ist geschehen, wie ist es dazu gekommen, und was bedeutet es, dass es dazu gekommen ist?

Stellen wir uns mit guter Sicht auf das Geschehen im Mikrokosmos der Kickerei an die Seitenlinie, oder besser noch, nehmen wir auf den oberen Rängen der Tribünen Platz und beobachten das Geschehen während des regelkonformen Zeit-Mysteriums „Nachspielzeit“ aus einer höheren Position und fragen: „Was geht hier eigentlich vor?“ Schauen wir also genauer hin und erkunden durch Zeitanschauung von oben, wie Zeit nachgespielt wird und was eigentlich wirklich geschieht, wenn, wie immer wieder behauptet, „Zeit“ nach- gespielt wird?

Relativ rasch wird deutlich, dass die Normalität Sepp Herbergers nicht mehr die Normalität des aktuellen Zeitgeistes ist. Der Zuschauer erkennt dies spätestens, wenn er nach 90 Minuten Spielzeit, der Gewohnheit früherer Jahre folgend, auf den Schlusspfiff wartet. Dieser aber bleibt aus. Statt dessen taucht an der Seitenlinie eine Person mit einer Tafel auf, die beidarmig in die Höhe gehalten wird. Auf ihr leuchtet eine meist grün gefärbte Ziffer auf. Angezeigt wird die Zahl jener Minuten, die nachgespielt werden sollen und von den Mannschaften zur Korrektur des Spielstandes genutzt werden können. Der Eindruck liegt nahe, dass es sich bei dem „Tafelhochhalter“ um einen dem Schiedsrichter zuarbeitenden Zeitkontrolleur handelt. Tatsächlich ist er oder sie aber nur der Überbringer oder die Überbringerin der vom Schiedsrichter beziehungsweise der Schiedsrichterin festgelegten Zeit des Nachspielens. Was die Person mit der Tafel betrifft, handelt es sich um die im Bürokratendeutsch des Fußballbundes zum „Vierten Offiziellen“ promovierte Hilfskraft des Schiedsrichters. In der Spielzeit 2003/4 eingeführt, bewacht sie, wenn sie nicht gerade über die Länge der Nachspielzeit in Minuten informiert, die Trainer der beiden Mannschaften in ihrem markierten Coaching-Gehege. Seinen ganz großen Auftritt hat der „Vierte Offizielle“ am Ende beider Spielabschnitte. Zu diesen dramaturgisch hochtemperierten Zeitpunkten taucht er, durchaus vergleichbar dem Deus ex machina in der antiken Tragödie, wie aus dem Nichts auf, um durch die Gewährung zusätzlicher Zeit dem Geschehen auf dem Rasen eine gesteigerte Schlussdramatik zu verleihen. Andere Stadionbesucher erinnert sein Auftritt auch an die schwarz gekleidete Gestalt des Sensenmanns, die man aus spätmittelalterlichen Totentanzdarstellungen kennt. Nur hält er kein Stundenglas in der klapprigen Hand sondern eine Signaltafel mit einer leuchtenden, gemeinhin einstelligen Zahl. Im FIFA-Regel- werk liest sich, was die Dramatik des Spiels in der Realität erhöht, einiger- maßen sachlich: „Der vierte Offizielle zeigt am Ende der letzten Minute jedes Spielabschnitts an, wie viele Minuten gemäss Entscheidung des Schiedsrichters mindestens nachgespielt werden.“

Der Leuchttafeloffizielle – ein Titel, mit dem er sich ausschließlich in diesem Text schmücken darf – schafft eine neue Zeitwirklichkeit. Sie heißt „Nachspielzeit“. Als wäre er Gottes Praktikant beim Schöpfungsvorgang und dürfte bei dessen Dramaturgie auch mal ran, schiebt er in der letzten Minute der Spielzeit das Ende der Spielzeit hinaus. Die regelkonforme 90-Minuten Spielzeit ist abgelaufen, beendet aber ist das Spiel nicht. Was aus der zusätzlichen Spielzeit gemacht wird, überlässt das Ordnungspersonal generös den um den Sieg kämpfenden beiden Mannschaften. Die Erregungsgemeinschaft auf den Tribünen, die sich der Frage verweigert, ob man Zeit hinausschieben kann, darf noch etwas länger hoffen, bangen, schreien, schweigen oder zittern und jene, die ihren Videoalltag über die Fernbedienung steuern, werden sich bei der Suche nach einer Fernbedienung er- tappen, mit der sie das eine oder andere fesselnde Ereignis auf dem Spielfeld zu wiederholen versuchen. Das ist dann die Gelegenheit, mal wieder über sich selbst zu lächeln.

Für einen konzentriert-distanzierten Beobachter ist die Reaktion der am Spiel beteiligten Akteure auf den Hinweis des Vierten Offiziellen: „Es gibt 4 Minuten Nachspielzeit“ insofern verblüffend, weil sie der Resonanz eines folgsamen Befehlsempfängers beim Militär nicht unähnlich ist. Zweiundzwanzig Spieler, elf pro Mannschaft, zwei Linienrichter und der fehlbare Schiedsrichter sehen sich aufgefordert, wer weiß, vielleicht sogar genötigt, das vom Reglement auf 90 Minuten festgelegte Spiel um die angezeigten Minuten zu verlängern – und alle folgen, alle gehorchen sie dem Signal, den Zukunfthorizont ihres Spiels um ein paar Minuten „Ausgleichszeit“ zu erweitern. Keiner der beteiligten Akteure verlässt nach den vereinbarten 90 Minuten den Platz, keiner verabschiedet sich mit dem Hinweis, die vom Regelwerk vorgesehene Spieldauer sei abgelaufen, nicht einer macht sich, auch nicht bei schlechtestem Wetter auf den Weg in die Kabine. Sekundenbruchteile nach den Spielern werden auch die Fußballfreunde an ihren Empfangsgeräten informiert, dass das Spiel um eine „additional time“ (Nachspielzeit.) verlängert wird. Zeitsensible Zuschauer werden in solchen Momenten stutzig, da sie sich mit dem ebenso überraschenden wie verwirrenden Sachverhalt konfrontiert sehen, dass, als handle es sich um die normalste Sache der Welt, „Zeit“ zu einem Phänomen erklärt und dann auch zur Praxis gemacht wird, das man nachspielen kann.

Für Zeitexperten und aufmerksame Beobachter des Zeitgeschehens, die ihre Neugier zentrieren um herauszufinden, wie das Nachspielen von Zeit funktioniert, welche Regeln dafür gelten und wie mit Regelverstößen umgegangen wird, ist das jedoch nicht selbstverständlich. Für sie, die sich in einer einem freundlich zugewandten Ethnologen vergleichbaren Situation sehen, der in afrikanischen Trockenregionen Regentänze studiert, um zu verstehen, was sich dabei abspielt, stellt sich die Frage – vorausgesetzt man möchte das neu institutionalisierte Konstrukt „Nachspielzeit“ nicht für einen humoristischen Einfall des fußballbegeisterten Zeitgeistes halten – lässt sich Zeit denn wirklich nachspielen?

Ist das möglich, können es nur Menschen? Könnten Affen Zeit nachspielen, wären sie Menschen, während diejenigen, die es vorgezogen haben, weiterhin Affen zu bleiben, dies mit ihrer Unlust, Zeit nachspielen zu wollen, begründen könnten.

Lässt sich Zeit nachspielen?

Die Frage hat Ecken und Kanten, Tiefen und Untiefen. Nichts nämlich ist uns selbstverständlicher als die Zeit, selten machen wir ruhelosen Wohlstandsmenschen uns über sie jedoch grundlegende Gedanken. Wer es tut und sich nicht scheut, dabei den eigenen Zeithorizont zu überschreiten, wird relativ rasch feststellen, dass „Zeit“, wie auch die Liebe und das Vertrauen, zu jenen flimmernden, undurchschaubaren und unfassbaren Phänomenen gehört, deren Gehalt und Bedeutung einem mehr und mehr entgleiten je näher man ihnen kommt. Dies trifft auch auf das Konstrukt „Nachspielzeit“ zu. Auch die- se kann, was Aristoteles von der Zeit behauptet, nicht gedacht werden, gibt aber zu denken, setzt sie doch eine Vorstellung von Zeit voraus und unterstellt einen Umgang mit ihr, der sich an der Wirklichkeit des alltäglichen Zeithandelns stößt. Die Frage ob man Zeit nachspielen kann, bringt unsere gewohnte Zeitwahrnehmung und unser traditionelles Zeitdenken ins Wanken und offenbart, dass Uhren nicht nur Zeitmessmaschinen und Gegenstände der Zeitanzeige sind, sondern auch das menschliche Denken und Handeln prägen. Ohne Uhren nämlich wäre alles anders, manches schwerer und komplizierter, vieles aber auch einfacher. „Nachspielzeiten“ sind in einer Gesellschaft ohne Uhren nicht vorstellbar, denn nachgespielt wird nie Zeit, nachgespielt werden Minuten, also „nur“ Uhrzeit.

Was nun bewirkt das Schicksalsdrama „Nachspielzeit“? Sie verkompliziert, wie das der französische Philosoph Sartre auch der Anwesenheit einer zweiten Mannschaft auf dem Platz zuschreibt, das Spielgeschehen. Formal macht sie das durch das Hinauszögern des Schlusspfiffs. Dass es, obwohl Schluss ist, weitergeht, verlängert und erhöht die Spannung mit Konsequenzen, deren Bewertungen man am nächsten Tag in der Zeitung zu lesen bekommt. „Ein zweifelhafter Elfmeter in der Nachspielzeit entscheidet das Match,“ oder: „Sieg über die Nachspielzeit gerettet.“ Beide Headlines verraten die beabsichtigte Wirkung der Nachspielzeit, den Wunder ermöglichenden Ergebnis-aufschub. Dieser ist attraktiv, denn, so zwei weitere Trivialerkenntnisse des Fußball-Weisen Sepp Herberger: „Abgerechnet wird zum Schluss.“ Und: „Die Leute gehen zum Fußball, weil sie nicht wissen, wie’s ausgeht.“ Wegen der Nachspielzeit wissen die Leute es ein wenig länger nicht, und auch, weil, wie alle Freunde und Freundinnen des Fußballspiels wissen, dies ein Spiel mit einem runden Ball ist, bei dem so etwas Unwahrscheinliches wie Last-minute-Tore geschossen werden können. Was dann die Zuschauer daran hindert, das Stadion vor dem Schlusspfiff zu verlassen, um auf ihrer Heim- fahrt den Verkehrsstau zu meiden.

Zurück zur Ausgangsposition. Ein Fußballspiel dauert bekanntlich 105 Mi- nuten, zweimal fünfundvierzig Minuten Spielzeit mit einer viertelstündigen

Pause zur Hälfte. Das war zu jenen Zeiten zumindest so, als Wartende an Bushaltestellen noch Zeitung lasen und nicht mit dem Zeigefinger über Smartphones wischten und Sepp Herberger für das Wunder von Bern sorgte. Inzwischen ist es anders. Nur noch in Ausnahmefällen, im Profifussball kommt es fast überhaupt nicht mehr vor, dauert das Fußballspiel 90 Minuten. In einer Regel zur „Dauer des Spiels“ erklärt der Deutsche Fußball-Bund (DFB) unter dem Stichwort Nachspielzeit: „In jeder Spielhälfte wird die Zeit nachgespielt, die verloren geht für Auswechslungen, Verletzungen von Spielern, Transport verletzter Spieler vom Spielfeld, Zeitschinden oder jeden anderen Grund.“ Die für die Lebensgestaltung einst unverzichtbare Erwartungssicherheit eines Fußballspiels von eineinhalb Stunden plus ca. 15 Minuten Halbzeitpause, ist dahin. Gewöhnlich dauert die Kickerei heute länger. Halbzeitpause und Nachspielzeit mitgezählt, zwischen 106 und 110 Minuten.

Was absehbar, eventuell auch beabsichtigt war, ist schließlich auch eingetreten. Ein Fußballspiel besteht heute nicht mehr nur aus zwei Zeitsequenzen, sondern aus drei: den beiden Halbzeiten von je 45 Minuten und der Nachspielzeit. Diese an die Halbzeiten angehängten Nachspielzeiten sind das zeitorganisatorisch eingelöste Versprechen, aus der Spielzeit mehr herauszuholen. Aufgabe der von einflussreichen Fußballfunktionären erfundenen und durchgesetzten Verlängerung der Spielzeiten ist es, die durch den Abpfiff markierte Diktatur des letzten Augenblicks, die Zugaben ausschließt, durch eine „Nach- spielzeit“ zu verschieben. Die Nachspielzeit ist so etwas wie die Fortsetzung des Kinofilms nach dem unvermeidlichen Sonnenuntergang. Sie ist eine zeitorganisatorische Neuerung, die die Attraktivität des Spiels mit dem Ball durch ein variables Zeitelement erhöhen soll. Sie transportiert die in der Erregungs- Gesellschaft bis in die Sphären der Irrationalität reichenden Flexibilitäten des Zeithandelns auf den grünen Rasen und befördert sie von dort wieder zurück. Gespielt wird nicht mehr nur mit dem Ball, sondern auch mit der Uhr und ihrer Zeit.

„Sobald das Ergebnis bekannt ist“, schreibt der belgische Autor Jean-Philippe Toussaint „verliert jedes Fußballspiel sofort allen Reiz“. Die Nachspielzeit verzögert diesen Attraktivitätsverlust. Sie hält die Spannung nicht nur hoch, sie steigert diese noch. Die Entscheidung über Sieg oder Niederlage wird verschoben, die Dramatik der Auseinandersetzung zwischen den Mannschaften verlängert und erhöht. In diesen „angehängten“ Minuten steigen die Chancen der Spieler, den Status eines Helden zu erwerben. Der Torschütze, der das Spielergebnis in der Nachspielzeit – 90+3 steht dann im Spielbericht – mit einem Tor „dreht“, oder der Torwart, der mit einer Glanzparade den Sieg in letzter Nachspielminute rettet, kann davon ausgehen, am Folgetag im Sportteil der Lokalpresse in einer Schlagzeile groß rauszukommen.

Niederlagen, die in der Nachspielzeit zustande kommen, werden in den Medien stets als besonders „bitter“ bewertet, Siege hingegen häufig als „glücklich“.

Mit knackigen Kommentaren ist das dramatische Potential der Nachspielzeit aber noch lange nicht ausgeschöpft. Falls nicht bereits auf dem Markt, kann man demnächst auf YouTube mit einer Zusammenstellung der „legendärsten Tore der Nachspielzeit“ und der „bittersten Niederlagen in der Nachspielzeit“ rechnen und wahrscheinlich auch mit der Wahl des „Nachspielzeit-Schützen-königs“.

Attraktiv ist die Nachspielzeit nicht nur, weil sie das Spiel verlängert, was man sich ja nicht von jeder Kickerei wünscht, sondern auch aus Gründen, von denen man unterstellen kann, dass sie den für deren Einführung Verantwortlichen nicht präsent waren. Die Attraktivität der Nachspielzeit wird nämlich auch von dem Wunsch und dem Streben der Menschen gespeist, die ihnen von ihrer Natur gesetzten Zeitgrenzen zu überwinden. Die Idee einer Nachspielzeit nährt sich nicht zuletzt von der Sehnsucht nach einem lebensverlängernden Zeitzuschlag. Diesen hat die Natur dem Homo sapiens, dessen Todesrate heute noch unverändert bei 100% liegt, bisher verweigert. Der Nachspiel-Fußball hält den faustischen Traum am Leben, der Tod hätte nicht das letzte Wort, die menschliche Vergänglichkeit könne, wenn schon nicht überwunden, so doch durch einen Zeitzuschlag hinausgezögert werden. Das Wissen um unsere Sterblichkeit und die heimliche Erwartung, die menschliche Lebenszeit prolongieren zu können, findet im Fußballstadion ihre Erfüllung.

Die Suche nach einem lebensverlängernden Elixir ist so alt wie die Menschheit selbst. Das Zeitkonstrukt „Nachspielzeit“ reiht sich dabei ein in die nicht selten abenteuerlichen Geschichten von der „Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“ (Christoph Wilhelm Hufeland).
Die frohe Botschaft des Fußballspiels lautet: Nach dem Schluss geht’s weiter. Das hatte der, was sportliche Aktivitäten angeht, eher zurückhaltende Ex-Papst Joseph Kardinal Ratzinger vielleicht auch zum Ausdruck bringen wollen, als er vom Fußballspiel, das ja auch eine Religion ist, von „einer Art Heimkehr ins Paradies“ sprach. Gehen wir nämlich davon aus, dass das Modell „Nachspielzeit“ auch jenseits der Fußballfaszination Realität würde und es sich auf den Lebenslauf übertragen ließe, wären die Menschen von der Zeitdruck verursachenden Angst befreit, die letzte Gelegenheit verpasst haben zu können.

Was die Menschen früher in religiösen Liturgien gesucht haben, das „Gemeinde-Erlebnis“ etwa, suchen und finden sie heute im Stadion. Der Rasensport übernimmt die soziale Funktion entkräfteter kirchlicher Liturgie.

Skeptischer und weniger optimistisch hingegen äußerte sich Georg Friedrich Hegel, was das Geschenk zusätzlicher Zeit betrifft: „Schon der Versuch, den Tod grundsätzlich ein wenig hinauszuzögern, muss uns zweifeln lassen, ob eine allgemeine Lebensverlängerung wirklich vernünftig ist.“ Ein Zweifel, der auch bei der Nachspiel-Verlängerung, beobachtet man ihre Praxis aus der Distanz, hin und wieder seine Berechtigung hat.

Die semantische Piraterie „Nachspielzeit“ provoziert ein doppeltes Rätsel. Zum einen ist unklar: Lässt sich Zeit überhaupt nachspielen? Zum anderen stellt sich die Frage: Was ist das eigentlich für eine Zeit, die da nachgespielt wird?

Die Beantwortung der Frage, ob Zeit überhaupt nachgespielt werden kann bedarf einer Auskunft darüber, wie man eigentlich denken, was man sich vorstellen muss, um auf die Idee einer Nachspielzeit zu kommen? Die Antwort: Man darf in Zeit, wie dies bis zur Erfindung und der raschen Verbreitung der Uhr noch gängige Praxis war, keine himmlische Angelegenheit sehen, sondern muss sie zu einer Sache des menschlichen Willens und Handelns erklären. Der mit einer Nachspielzeit experimentierende Mensch, muss sich als eine Art „Maschinist“ der Zeit verstehen und sich entsprechend verhalten. Er fühlt sich nicht als ein Opfer des zeitlichen Geschehens, sondern als ein Akteur mit der Zeitmacht über Werden und Vergehen. Das ist jedoch eine grandiose Selbstüberschätzung.
Wäre man tatsächlich in der Lage, Zeit nachzuspielen, läge es auch auf der Hand, dies nicht nur beim Fußballspiel zu praktizieren, sondern auch bei jenem großen Schicksalsspiel, das wir uns „Leben“ zu nennen angewöhnt haben. Dann könnten die Menschen, auf eine „Restlaufzeitverlängerung“ hoffen, wie sie sich derzeit manche für einige Atomkraftwerke wünschen, oder, das würde vielleicht auf das Interesse des Finanzministers treffen, auf einen zeitlichen Nachtragshaushalt hoffen. Ein „additional life“ außerhalb des Kinos aber gibt es so wenig wie ein Nachhol- oder ein Zusatzleben. Man kann mit der Zeit nun mal nicht so verfahren wie mit einem Stapel Karten, von dem man bei Bedarf zusätzliche abheben kann. So gesehen ist die Zeitinstitution „Nachspielzeit“ die Erfindung eines regeltechnisch abgesicherten Hoffnungsreservoirs gegen die Vergänglichkeit des Lebens. Besser haben es diejenigen, die an ihre Unsterblichkeit glauben, weil die Todessstrafe abgeschafft wurde. Für alle anderen, denen dieser Glauben fehlt, weil sie wissen, dass die Natur die Abschaffung der Todesstrafe nicht nachvollzogen hat, wurde als Trost die Nachspielzeit erfunden.

Mit der Nachspielzeit wurde in den Fußballarenen dieser Welt eine Wirklichkeit geschaffen, die auch außerhalb der Stadien den Hoffnungen und Sehnsüchten entgegenkommt, die Zeit nicht immer nur in der Gegenwart leben zu müssen.

Die Nachspielzeit unterstellt, sie suggeriert, es sei zumindest beim Fußballspiel gelungen, Zeit in Portionen abpacken und zwecks späterer Nutzung und Kompensation zurückliegender Versäumnisse in die gleichermaßen unvermeidliche wie pünktliche Zukunft zu verschieben. Dabei handelt es sich um die mit der Uhr in die Welt gesetzten Illusion, durch Manipulation der Zeiger auch Zeit verschieben und die Zukunft verfügbar machen zu können. Hier liegt eine Verwechslung von Zeit und Termin vor. Nur Termine lassen sich verschieben, Zeit nicht. Wäre es anders, wäre der Zeittraum aller Schneemänner und Zeitsparer in Erfüllung gegangen, Zeit einfrieren und später wieder auftauen zu können.

Nicht der Sachverhalt, dass das Spiel länger als die einst festgelegten 90 Minuten dauert, verwundert und wirft jene Fragen auf, die hier gestellt werden, fragwürdig ist vielmehr, dass der Spielzeit-Verlängerung – mehr ist es nicht – im Deutschen der Name „Nachspielzeit“ verliehen wird. Weder die internationalen noch die nationalen Regelmacher, auch nicht die Kommentatoren von Fußballspielen stellen sich oder ihren Mitmenschen die Frage, ob man Zeit nachspielen kann. Sie unterstellen, es sei fraglos möglich. Etwas informativer sind ihre Antworten darauf, was eigentlich nachgespielt wird, wenn der Ordnungshüter am Seitenrand – seit der Fußballweltmeisterschaft in Frankreich 1998 – auf einer von ihm hochgehaltenen Leuchttafel ankündigt, es würden x Minuten nachgespielt. Auskunftsfreudig ist die – zugegebenermaßen häufig sehr „freie Enzyklopädie Wikipedia.“ Beim Aufruf des Stichwortes „Nachspielzeit“, ist dort zu lesen: „Nachspielzeit ist die Verlängerung des Fußballspiels über die reguläre Spielzeit hinaus, um während des Spielabschnitts aufgetretene Zeitverluste durch Verletzungen, witterungsbedingte Unterbrechungen oder unzulässige Verzögerungen auszugleichen.“ In dem vom Lehramt des Weltfußballverbandes FIFA erlassenen offiziellen Regelwerk aus 2018/2019 findet man in der die Spieldauer bestimmenden Regel Nummer 7 zum Thema „Nachspielzeit“ die Formulierung: „Die in jeder Halbzeit nachzuspielende Zeit liegt im Ermessen des Schiedsrichters. Nachgespielt werden muss in der entsprechenden Halbzeit des Spiels jede verloren gegangene Zeit durch:

  • Auswechslungen,
  • Untersuchung und/oder Abtransport von verletzten Spielern,
  • Zeitschinden,
  • Disziplinarmassnahmen,
  • Trinkpausen (maximal eine Minute) oder Pausen aus sonstigen medizinischen Gründen, die gemäss Wettbewerbsbestimmungen zulässig sind oder
  • Verzögerungen aufgrund von Videosichtungen und Videoüberprüfungen,
  • sämtliche sonstigen Gründe, einschliesslich etwaiger Verzögerungen bei der Spielfortsetzung (z. B. beim Torjubel)

Na ja, das ist doch schon mal eine Auskunft. Damit kann man etwas anfangen! Jetzt wissen wir, was nachgespielt wird, wenn „Zeit“ nachgespielt wird. Nachspielzeit ist, zumindest kann man es so sehen, eine pauschale Kategorie für Aktivitäten, Versäumnisse und Unterlassungen, die während des Spiels geschehen, aber nicht zum Spiel gehören.

Heute wird Zeit nicht nur im wahren Leben sondern auch im Spiel zu einer raren Ressource erklärt und das „Spiel mit der Zeit“, was einst zur fraglosen Normalität und zur Unterhaltung zählte, zu einer zu strafenden Handlung gemacht. Diese wird, wie man es vom inakzeptablen „Spiel mit der Zeit“ im Schulbetrieb kennt, durch eine Zeitstrafe sanktioniert. Die auf diese Art von Zeitzeugen gezeugte Zeit heißt in der Schule „Nachsitzen“, im Stadion „Nachspielzeit“.

Das Spiel mit der Zeit während des Spiels mit dem Ball ist also nicht neu und daher auch nicht allzu originell. Die Regelmacher der FIFA haben es bei der disziplinierenden Erziehungspraxis abgekupfert. Ein Beleg, dass die spät- moderne Erregungsgesellschaft vor allem der Substanz ihrer Geschichte und ihrer Geschichten lebt, die sie gerne als „Neuheiten“ verkauft. Dies trifft auch auf die „Nachspielzeit“ zu, die Nachsitzen zu einer spielerischen Angelegenheit macht.

Zwischen Bildungsaktivitäten und Rasensport existiert jedoch ein gravierender Unterschied. Im Schulbetrieb müssen nur die Regelverletzer nachsitzen, beim Fußballspiel hingegen alle an der Kickerei Beteiligten, auch diejenigen, die keine Zeit wegen „übermäßiger Verzögerungen während der offiziellen Spielzeit“ (FIFA-Reglement) „verloren“ oder „vergeudet“ haben. Die Nachspielzeit ist eine Kollektivstrafe für das Zeitschinden und Zeitvergeuden aus taktischen Gründen. Man könnte sich auch eine Alternative vorstellen. Das Fußballspiel ist ja – der Name sagt es – ein Spiel. Sein Zweck ist Unterhaltung und unterhaltender als die Bestrafung kreativen Zeitschindens ist dessen Belohnung. Wie das Fernsehen den Schützen des „Tor des Monats“ prämiert, so könnte man auch die unterhaltsamste, originellste und theatralischste Zeitschinderei würdigen und das Stadion auf diesem Wege zu einer Art Volkstheater für das Stück: „Zeit von der Uhr nehmen“ machen.

Die Zielrichtung hinter der 1987 im Regelwerk der FIFA erstmalig auftauchenden Neuerung ist eine andere. Sie reicht weit über Spielfeldrand und Stadiontore hinaus und hat eine über den Ballsport hinausgehende Bedeutung. Das Fußballspiel ist nämlich ein weit über das sportliche Geschehen hinausgehendes Laboratorium – „Spielwiese“ wäre treffender – in dem erprobt werden kann, wie das Leben, in unserem Fall das Zeitleben, gestaltet werden könnte.

Mit der „Nachspielzeit“ erprobt der spätmoderne Fußball die Zeitdynamiken nachindustrieller Gesellschaften. Er testet sie aus und prüft, inwieweit sie auf andere gesellschaftliche Lebenswelten übertragen werden können. Bei der Übernahme des innovativen Zeitexperiments „Nachspielzeit“ ins Regelsystem des Weltfußballverbandes FIFA handelt es sich um ein Unternehmen zur Zeitverdichtung des Spielgeschehens. Zeitverdichtung ist nicht auf das Spiel mit dem Ball begrenzt. Sie kennzeichnet auch den herrschenden Zeitgeist, der Leistungsintensivierung von Handlungsketten, von Eindrücken, Erfahrungen und Erlebnissen, alles dies, was von Karl Marx als „dichtere Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit“ beschrieben wurde.

Die Nachspielzeit, die den Fußballern während der 90-minütigen offiziellen Spielzeit mehr Aktivitäten zumutet, fungiert, so gesehen, als Schrittmacher eines gesellschaftlichen Trends zur Zeitkompression. „Nachverdichtung des Daseins“ heißt das politische Programm auch jenseits des Rasens. Das Spiel soll im Stadion schneller werden, der Ball ununterbrochen „unterwegs“ sein: Weniger Dribblings, mehr Pässe, Verringerung von Unterbrechungen, kein Atemholen, keine ruhenden Bälle. Die Nachspielzeit, so die Erwartung, kompensiert jene Aktivitäten, die vom Schiedsrichter als „geschindete Zeit“, als absichtliche Zeitverzögerungen wahrgenommen werden. Spielsequenzen, in denen der Ball ruht, werden als „verlorene“, „verschwendete“ oder „vergeudete“ Zeiten wahrgenommen und geächtet. Von „Zeitverlusten“ spricht man, wenn Spieler ausgewechselt und verletzte Spieler behandelt werden müssen, aber auch bei länger andauerndem Torjubel. Nachspielzeiten sollen sie aus- gleichen.

„Verlorene Zeiten“, „Zeitverluste“? Was ist das? Gibt es diese wirklich, oder sind sie nur der Geldwirtschaft abgeschaute Konstrukte von Wille und Vorstellung? Einen mit dem Adjektiv „unnötig“ beschriebenen Zeitverlust gibt es in Wirklichkeit nicht, ihn gibt es so wenig real, wie „gesparte“ Zeit. Beides sind ausgedachte Wortspiele mit realen Folgen. Ein zeitliches Geschehen, zum Beispiel eine Pause, wird als „Verlust“ interpretiert, um damit dann ein anderes zeitliches Konstrukt, das der „Nachspielzeit“ als Kompensationszeit zu rechtfertigen. Und siehe da, es funktioniert – auf beiden Seiten der Stadiontore. Die ins Regelwerk übernommene Zeitfigur „Nachspielzeit“ hat das Fußballspiel neu erfunden. Es unterscheidet sich vom traditionellen Fußballspiel, wie wir dies von den „Helden von Bern“ kennen, vor allem durch die Enge der Zeit, durch größere Hektik, schnellere Aktivitäten, fixere Reaktionen und immerwährenden Zeitdruck. Der Ball muss stets in Bewegung sein, die Spieler müssen dem Wahlspruch von Jules Vernes Kapitän Nemo „Mobilis in mobili“ (Beweglichkeit im Beweglichen) folgen.

Sieht man sich Aufzeichnungen von Spielen der sechziger/siebziger Jahre an, kann man auf die Idee kommen, es hätte im Fußballsport einmal ein Zeitalter der Behäbigkeit gegeben. Dagegen ist das, was heute auf dem Rasen geschieht, die pure Tempobolzerei. Der Spielverlauf ist ein pausenloses Geschehen, das sich bruchlos in die Nonstop-Welt unseres medial überver- sorgten Alltags einfügt in dem Zeitdruck zum Grundrauschen wurde. Typisch dafür das Zitat von Pep Gardiola, früher Trainer des FC Barcelona, des FC Bayern München und aktuell von Manchester City: „Wenn der Arzt sagt, der Spieler ist in acht Wochen wieder fit, will ich ihn in sieben Wochen haben, wenn er sagt, in fünf Wochen, will ich ihn in vier Wochen haben.“

Inzwischen wurde der spätmoderne Zeitdruck-Fußball Teil des herrschenden Verdichtungsbetriebes. Was in der Ökonomie die flächendeckende Herrschaft des Zeit-ist-Geld-Prinzips ist, ist auf dem Rasen der permanente Ballbesitz. Dabei ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass der forcierten Beschleunigung des Spielbetriebs eine dem das Geld zur Wertform der Zeit eigene Verwechslung von Spielerei und Raserei zugrundeliegt.

Vieles spricht für die These, im Fußballspiel ließen sich nicht nur die großen Menschheitsthemen wiederfinden, es wäre darüber hinaus auch eine Art Testgelände für die Erprobung gesellschaftlicher Zeitentscheidungen. Dass dies keine Einbahnstraße ist, beweist die zunehmende „Fußballerisierung“ der Kommunikation. Allen voran bedienen sich Politiker und zunehmend auch Politikerinnen des Rasensports als Bild- und Metaphernspender für ihre rhetorischen Auftritte in den Wettkampfstätten des Politikbetriebes. Die Formel, „gut aufgestellt zu sein“ dient ebenso dem Selbstlob wie der Hinweis, politisch „in der Championsleague zu spielen“. Dem politischen Gegner, dem man mit Vorliebe „die gelbe oder die rote Karte“ zeigt, wirft man gern vor, in die „Abseitsfalle getappt“ zu sein oder ein „Offensivfoul begangen“ zu haben. Auch die Metapher von der „Nachspielzeit“ findet im Politikbetrieb häufig Anwendung, vor allem, wenn Sitzungen oder Gesetzgebungsverfahren zu einem „Kampf gegen die Uhr“ werden.

Für den die Zeitspielerei von der Höhe der oberen Tribünenränge beobachtenden Stadionethnologen stellen sich weitere grundsätzliche Fragen: Was heißt eigentlich „verlängern“, wenn im FIFA-Regelwerk zu lesen ist: „Nachspielzeit ist die Ausgleichszeit eines Fußballspiels über die reguläre Spielzeit hinaus“? Verlängert die Nachspielzeit das gerade stattfindende Spiel, oder wird die Nachspielzeit, wie ihr Name vermuten lässt, nach dem Spiel gespielt? Eine Frage, die sich auch beim pädagogischen Vorbild „Nachsitzen“ stellt. Ist das Nachsitzen ein Teil des Unterrichts, oder handelt es sich um eine Maßnahme, die mit diesem nichts zu tun hat?

Gehört die Nachspielzeit zur Spielzeit, obgleich sie doch erst beginnt, wenn die offizielle Spielzeit abgelaufen ist? Fragen über Fragen, Unklarheiten über Unklarheiten. Antworten darauf können nicht abschließend gegeben werden, zumal im Regelbuch des Schweizer Fußballverbandes der zugegeben etwas mysteriöse Hinweis auftaucht: „Den auf vielen Plätzen aufgestellten Grossuhrwerken kommt nur orientierender Charakter zu.“
Es sieht ganz so aus, als wären sich die Regelmacher nicht ganz sicher, was sie eigentlich nachspielen lassen sollen, dürfen und wollen. Zumal Interpreten des Regelwerks darauf hinweisen: „Normale Verzögerungen,“ das sind Verzögerungen, die zum Spiel gehören, dürfen nicht nachgespielt werden, nur „verloren gegangene“ oder „vergeudete“ Zeit. „Normale“ oder „nicht normale“ Verzögerungen?, wer entscheidet dies mit welchen Argumenten? Könnte es nicht sein, und wahrscheinlich ist es auch so, dass, was für den Schiedsrichter „vergeudete“ Spielzeit ist, für die Spieler produktive Verzögerungen sind? Und ganz vielleicht ist die „Zeitvergeudung“ ja gar keine Vergeudung, sondern dient nur ihrer Verhinderung.

Und noch eine Frage muss gestellt werden: Wer eigentlich garantiert, dass es nicht in erster Linie das Attraktive, das Unterhaltsame, das theatralisch und dramaturgisch Interessante ist, das durch die wirkmächtige Definitionsmacht des Schiedsrichters als Zeitverlust diskriminiert wird? Für jeden Torjubel, so die bei den Spielleitern kursierende Faustregel, eine Minute Nachspielzeit. Ist das wirklich ernst gemeint? Was soll das, wohin soll das führen? Seit wann wird der Zweck der ganzen Veranstaltung, das Toreschießen, bestraft? Die nicht selten hemmungslosen Spannungsentladungen nach einem geglückten Torschuss gehören – falls der Autor dieser Zeilen nicht immer im falschen Stadion saß – zum künstlerisch Wertvollsten und Unterhaltsamsten, was der Fußball zu bieten hat. Deshalb der Rat: „Liebe Regelmacher, etwas mehr Entspannung täte gut! Schaut nicht so oft auf die Uhr, schaut mal wieder auf das Spielfeld und schaut den spektakulären Tänzen und Inszenierungen dort zu! Dann könnt Ihr vielleicht auch genießen, wie es Fußballspielern gelingt, das Vertrödeln und Vergeuden der Zeit, kurzum, das Spiel auf Zeit, zu einer höchst anregenden Form der Bewegungs- und der Täuschungskunst zu entwickeln! Und erinnert Euch daran: Die wirklich großen Leistungen der Menschheitsgeschichte sind nicht entstanden, weil man Zeit gespart oder sie nachgespielt hat, sondern weil man sie vergaß und verschwendete.“

Fassen wir zusammen und kommen zur Ausgangsfrage: Kann man Zeit nachspielen? Nein, das kann man so wenig wie sie zwecks späterer Verwertung im Tiefkühlfach einfrieren. Man darf Zeit aber, das zeigt die Praxis, nach- spielen – wie man vieles andere ja auch darf, das man nicht kann.

Die Erfinder der „Nachspielzeit“ unterstellen, es gäbe etwas Gegenständliches mit dem Namen „Zeit“, das man hin- und herschieben kann, obgleich man aus eigener Erfahrung doch weiß, dass Zeit, die heute vergeht, nicht ins Morgen mitgenommen werden kann. Mehr Rationalität als in den Riten und Sprüchen von Regenmachern ist in der Liturgie des Nachspielrituals beim Fußballspiel auch nicht zu erkennen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Nachspielzeit ist nicht fragwürdig, weil sie das Fußballspiel über die festgelegten 90 Minuten hinaus verlängert. Fragwürdig ist die wunderliche Verwandlung der Spielzeitverlängerung in eine „Nachspielzeit“, handelt es sich in Wirklichkeit doch nicht um „nach“, sondern um „weiter“ gespielte Zeit. Der zutreffende Begriff wäre eigentlich „Verlängerung“. „Verlängerung“ aber, so will es das Regelwerk, ist beim Fußballspiel bereits für jene zusätzliche Zeit reserviert, die bei einem Unentschieden die Ermittlung eines Siegers möglich machen soll. Und deshalb macht man aus ein und demselben Sachverhalt zwei unterschiedliche Zeiten, mit der Folge, dass man in den Montagsausgaben der Tageszeitung so kreative Überschriften wie: „Während der Nachspielzeit in die Verlängerung gerettet“, zu lesen bekommt.

Nachspielzeiten beweisen, dass das Fußballspiel nicht ausschließlich ein Spiel mit dem Ball, sondern auch eines mit der Zeit ist. Es geht bei der Kickerei um den Ball um Anfang und Ende, Leben und Tod, Sieg und Niederlage. Die Zuschauer können dabei ihre Selbsttäuschungen, ihre Sehnsüchte, Hoffnungen, Wünsche und Illusionen pflegen und genießen, und sie können erfahren, dass ihr Zeiterleben ständig vom Spielstand abhängt, und Zuschauer, die Einsteins Relativitätsthorie testen wollen, darüber hinaus vom Standpunkt des Beobachters. Sie können und dürfen mitfiebern, wenn die nach Toren in Führung liegende Mannschaft die Grenzen der menschlichen Vorstellungs- kraft strapaziert, und etwas tut, was diese überschreitet, nämlich „die Uhr herunterspielt“. Und das, während die Spitzenverdiener der gegnerischen Mannschaft sich zur gleichen Zeit anstrengen, auch dies überschreitet die Grenzen der menschlichen Fantasie, „der Zeit, die sie liegen gelassen haben, hinterher zu hetzen.“ Es ist beim Fußballspiel so aufregend wie im richtigen Leben: Die einen müssen verteidigen, was sie erreicht haben, die anderen dafür sorgen, dass sie noch ein paar Chancen haben, Spiel und Leben zu drehen. Der Kosmos, so lehren uns die Physiker, ist vom Zeitpfeil durchdrungen. Sie sehen in ihm eine große Uhr, die ihre Zeiger weder anhalten noch vor- und auch nicht zurückstellen kann. Das ist beim Fußballspiel anders. Auf dem Rasen herrscht Chaos und Ordnung, Vernunft und Irrsinn, Gesundheit und Verletzung, Kontinuität und Unterbrechung, Erhabenes und Banales, und es geht dort um Zeiten, die mal „nach“ und ein andermal „verlängert“ und „weiter“ gespielt werden.

Will man aber in Erfahrung bringen, was wirkliche, echte Nachspielzeit ist, sollte man mal wieder auf einen Friedhof gehen, um jenen nahe zu sein, die dort, gestrichen aus dem Gästebuch der Zeit, ihre nach oben offene Nachspielzeit zubringen. Die Wahrheit der Nachspielzeit liegt nämlich nicht, wie das selbsternannte Experten gern behaupten, auf dem Platz. Sie liegt tiefer.

Erschienen in Universitas 11/2022 (Lesezeiten Verlag, Dirk Katzschmann)