Artikel von Karlheinz Geißler, 08/2022
„Vorsicht, bitte zurücktreten! Der rempelnde Schnelldenker-Zeitgeist kommt um die Ecke! Schon ist er nah, ganz nah, „zeitnah.“ Er informiert zeitnah, schaut zeitnah vorbei und verabredet sich zeitnah zu einem Espresso doppio in der Tagesbar an der Ecke. Der von der katholischen Kirche einstmals mit dem Teufel ineins gesetzte „Zeitgeist“, eine am Anfang der industriellen Massenproduktion im Lichtkegel der Begriffsgeschichte auftauchende und in fremde Sprachen im Original übernommene Vokabel, wurde zeitnah. Nur selten mehr geschieht etwas bald oder rasch, nichts sogleich, demnächst, in naher Zukunft, in Kürze oder alsbald. Subito und ehebaldigst geschehen die Dinge schon längere Zeit nicht mehr. Nein, den Zug der Zeit mit dem der „Zeitgeist“ zusammen mit dem „Trend“ im Gepäck zum Surfen aufbricht, den erreicht man heute „zeitnah“ und stellt dabei erstaunt fest, dass „zeitnah“ zu jenen Vokabeln gehört, die man, bevor man sie erstmalig hörte, überhaupt nicht vermisste hat.
Politiker und andere wichtigtuerische Aufschneider lieben Retortenworte wie „Zeitnähe“, versprechen „zeitnahe Lösungen“, „zeitnahe Entscheidungen“ und “zeitnahe Termine“, obgleich es die althergebrachten Begriffe „bald“ und „demnächst“ auch tun würden. Wer, wie uns die ungleichen Schwestern Erfahrung und Statistik verraten so daherredet, verwendet auch Floskeln wie “gut aufgestellt und “abgefahren”. Mit Zeitgenossen des Typs “Wichtigtuer” oder “Aufschneider” hat man es zu tun, wenn man von einem entscheidungswütigen Macher mit Tendenz zur Reflexionsverweigerung in einem Interview zu hören bekommt, dass “Ostern im Kalender ein zeitnahes Zeitfenster aufstößt, das für familiäre Aktivitäten genutzt werden kann.” Die Bürovokabel “zeitnah” zählt zur beliebten Einnebelungsprosa der sich im Gerangel um die besten Plätze in dieser Gesellschaft in die ersten Reihen drängender Terminjunkies hinter den matt glänzenden Hochhausfassaden – meist sind es Männer – die ihren Hochzeitstermin schon mal vorsorglich im Kalender reservieren, ohne zu wissen, wen sie heiraten.
Was aber ist „zeitnah“?
Jeder kennt’s, aber keinen wundert’s. Nun, dann lassen Sie uns die Frage zeitnah klären!
Die „Zeitnah-Floskel” gehört zu der in dieser Konkurrenzgesellschaft verbreiteten und medial unterstüzten Sucht nach Phrasen des Ungefähren. In der Sprachretorte hergestellt, gehört „zeitnah“ in den gleichen Sprachmülleimer wie der bei Politikern beliebte aber falsche Superlativ, dass, was Gegener ihnen vorwerfen, sie in „keinster“ Weise tangiere. In „keinster“ Weise, ja, was ist das denn? „Keiner“ reicht wohl nicht, obgleich mehr als keiner gar nicht geht. Andere sagen, was sie denken, ohne davor etwas gedacht zu haben und verlangen von ihren Gesprächspartnern das, was ihnen nicht passt, in „nächstliegenster“ Zeit zu ändern. Auch “nächstliegend” lässt sich nicht steigern. Die Begriffe „bald“ oder „sogleich“, die es an Stelle von “zeitnah” auch tun würden, scheinen ihnen zu banal da ihnen das Alarmistische und Wichtigtuerische abgeht. Zeit wird’s, dass es sich endlich herumspricht: Manches lässt sich nun mal nicht weiter steigern! Bedauerlicherweise gehört die Dummheit nicht dazu. Dazu zählen aber Formeln wie „keinster“ und „zeitnah“ oder, wie man es im Fernsehen öfters hört, das die Ortsbestimmung „nahe“ ersetzende “unweit”.
„Zeitnah“ ist die flachdeutsche Zeitdruckformel des übereilten und ungeduldig zugreifenden Verstandes in spätmodernen Zeiten. Als Bürovokabel gestartet, hat sich das aus unerfindlichen Gründen nicht zum Zuge gekommene „Unwort des Jahres“ heute in die Umgangssprache eingenistet und ist inzwischen die mit Abstand beliebteste Antwort bei Zeitauskünften: „Wann können Sie das Gerät denn reparieren?, bis wann den Antrag bearbeiten?, wie rasch das Geld überweisen?, und wann bei mir vorbeikommen?“ Die Antwort ist immer die gleiche. Sie heißt stets: „zeitnah.“ Politiker versprechen “zeitnahe” Verordnungen, Ingenieure “zeitnahe” Lösungen, die Bahn “zeitnahe” Auskünfte über Verspätungen und Kirchenobere reden, kaum hat der Advent begonnen, vom “zeitnahen” Weihnachtsfest. Alles und jedes muss heute „zeitnah“ geschehen. Selbst in Zeiten, in denen der Zeitgeist, dies ist wie J.G. Herder lehrt, „die Summe der Gedanken, Gesinnungen, Anstrebungen und lebendigen Kräfte, die in einem bestimmten Fortlauf der Dinge mit gegebenen Ursachen und Wirkungen sich äußern“, nur mehr mit einer begrenzten Haltbarkeit rechnen kann. Selbst in die Prosa von Fußballtrainern ist das Modewort eingegangen: „Unser Ziel ist ‘zeitnah’ aufzusteigen“. Also, liebe Leute, haltet Euch bereit – und seid immerzu “zeitnah” bei der Sache!
Doch stopp! “Zeitnah”, muss es wirklich “zeitnah” sein, könnte man nicht auch die im semantischen Umfeld sich tummelnden Begriffe „demnächst“, „bald“ oder „aktuell“ verwenden? Was ist eigentlich das, was die Sachverständigenprosa „zeitnah“ nennt, was heißt und was bedeutet es? Was ist zu tun, was zu lassen, wenn man aufgefordert wird, etwas „zeitnah“ zu machen und anderes „zeitnah“ sein zu lassen? Und wie schnell kann man eigentlich mit einer Antwort rechnen, wenn das Amt eine „zeitnahe” Reaktion verspricht? Umgehend? Bald? Unverzüglich, oder in drei Wochen? Alles unklar – aber “zeitnah”. Da drängt sich die Vermutung drängt auf, dass es vor allem die Kooperation von Unschärfe, Ungenauigkeit und Unverbindlichkeit ist, der das „Zeitnahe“ seine Attraktivität verdankt. „Zeitnah“ kann „sogleich“ heißen, aber auch „irgend wann“, “zuweilen” und auch „niemals“. Deutschland kann sich glücklich schätzen, dass Günter Schabowski am 9. November 1989 die Öffnung der Mauer nicht mit der Verzögerungs- und Hinhalteformel „zeitnah“ sondern mit der klaren Ansage „sofort, unverzüglich“ angekündigt hat. “Zeitnah” wäre die Geschichte anders verlaufen, Deutschland ein anderes Deutschland. Und Goethes wunderbares Nachtlied des Wanderes endete nur halb so grandios: Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! “Zeitnah” Ruhest Du auch.
Die unübertreffliche Schönheit des nur vermeintlich präzisen Ausdrucks kann’s eigentlich nicht sein, die den inflationären Gebrauch der, wie die Praxis zeigt, eher ein Missbrauch ist, erklären könnte. Dem „Zeitnahen“ fehlt, wie dem die Nähe ersetzende „Unweiten“, jeder, auch nur oberflächliche Anflug einer poetischen Anmutung, wie sie im „ehebaldigst“ der barocken Wiener Amtsprache des Kaiserreichs noch zu erspüren war. „Ehebaldigst“, „alsbald“, „beizeiten“, Worte die von der Imponiervokabel „zeitnah“ erwürgt und auf dem Friedhof der vergilbten Zeitangaben zur Ruhe gebettet wurden.
Zu irgend etwas aber muss die Blähvokabel „zeitnah“, mal abgesehen von der Halbbildung vortäuschenden, wichtigtuerischen Attitüde, doch auch gut sein. Das ist sie: „Zeitnah“ klingt nach einer rhetorischen Sonderanfertigung, wie „Zeitschleife“, „Zeithorizont“ und „Zeitschiene,“ die allesamt in die Welt gesetzt und dort Karriere machten, um der hässlichen Vokabel vom „Zeitdruck“ rhetorischen Glanz zu verpassen. Eine Praxis, die wir von der Margarinereklame im Fernsehen kennen. Wie in der Werbung für den Brotaufstrich glückstrahlende Frühstücksfamilien in einer Welt, in der die Scheidungsraten von Jahr zu Jahr steigen, eine aufgehübschte Normalität vorgegaukeln, so schminkt die Zeitnähe den Zeitdruck schön. „Zeitnah“ hört sich einladend an, „Zeitdruck“, um den es in Wahrheit geht, klingt hingegen bedrohlich. Im Grunde aber meint beides dasselbe, mit eindeutigen Akzeptanzvorteilen für den glänzenden „Zeitnah-Lack“. Vielleicht aber war die Idee des „Zeitnah-Lacks“ ja der Einfall jenes Kleinstadtbürgermeisters, der, bevor er sich vornahm, den Zeitdruck durch die Zeitnähe zu “verschönern”, seine Schönrednerkompetenz bereits dadurch bewiesen hatte, dass er mit dem Ziel der Wertsteigerung die Adresse des kommunalen Baugrundstückes „Am Klärteich“ in „Nachtigallenweg“ verändert hatte.
„Zeitnah“ ist die „am sausenden Webstuhl der Zeit“ erfundene Aufschneider-Floskel von Hochstaplern und Getriebenen, die offen gestehen, aus Zeitgründen nicht all das bedenken zu können, was sie so sagen, die jederzeit und überall jenem Geschehen den Vorzug geben, das sich rasch und ohne Umwege erledigen lässt und deren Uhrzeiger stets auf „Fünf vor Zwölf“ stehen.
Die „Fünf vor Zwölf“ Ermahnung “höchster Zeit” ist das Victory Zeichen der Uhrzeiger Sie ist, was ihre Wirkmächtigkeit angeht, der in biederem Gewande daher kommenden “Zeitnah-Floskel” vergleichbar, und heißt in die Sprache der Praxis übersetzt: beeilen bitte! Der Sheriff – irgendwie ist es immer Gary Cooper – nähert sich den Banditen „zeitnah“. High Noon ist “zeitnah” und “zeitnah” ist High Noon. Kurzum: „Zeitnah“ ist die letzte Sprosse der Leiter zum Galgen, ist der finale Glockenschlag vor Mitternacht, ist die Blähvokabel aller Tempobolzer, die ebenso pausenlos wie zwecklos klagen, keine Zeit zu haben und zugleich dabei unendlich stolz sind, dass es so und nicht anders ist.
In der Sprachwelt der vom Geist der eiligen Zeitökonomie infizierten immer gut frisierten Wichtigtuer steht „zeitnah“ fürs eilige, hetzende und gehetzte Ungefähre und die Offerten “zeitnaher” Zeitfenster für akute temporale Diarrhoe. Besonders wohl fühlt sich die Floskel „zeitnah“ in einem Umfeld, wo es zum guten Ton gehört, keine Zeit zu haben. „Tut mir leid, hab’ keine Zeit“ lautet dort die gern verwendete, sich selbst widersprechende Entschuldigung, die in Wahrheit eine Lüge ist. Der Zeit die Schuld für einen abrupten sozialen Kontaktabbruch zuzuschieben, das ist, als würde man die Schwerkraft verantwortlich machen, wenn einem eine Tasse aus der Hand gefallen und in tausend Stücke zersprungen ist. Das auf soziale Profite spekulierende Wehklagen, zu wenig Zeit zu haben läuft, wie ja auch die “Zeitnah-Phrase” auf das Eingeständnis hinaus, das Zeitleben nicht allzu vernünftig organisieren zu können.
Es sind die „zeitnah” Sager, die aus Schülern, Studenten, Patienten, alten Menschen und Kleinkindern „Kunden“ machen, aus Ärzten und Pflegekräften „Leistungserbringer“ und aus den „Fährleuten des Verstehens,“ den Lehrerinnen und Professorinnen „Dienstleister.“ Wo man nur noch auf geschäftliche Beziehungen und flüchtige Formen der Gemeinsamkeit trifft, wo sich der Wert der Zeit auf ihren Geldwert reduziert, und die Furcht, nicht mehr auf dem Laufenden zu sein, zum Amoklauf mit Navigationsgerät und Sorgentelefon wird, geschieht alles und jedes zeitnah. Der hochprozentige Zeitgeist des Instantanen und des Sofortismus, den Karl Valentin mit dem Befehl: „Du bleibst da und zwar sofort“ persiflierte, macht die Zeitnahfans allesamt betrunken – auch weil sich „zeitnah“ so gebildet anhört. Selbst die Stehenbleiber und der im Verkehrsstau festsitzende, unruhig-zappelige Dringlichkeitsdynamiker in seinem übermotorisierten Porsche Carrera, der seinen Business-Coach anruft, um ihm auf dem Anrufbeantworter die Nachricht zu hinterlassen, dass er heute nicht pünktlich, ganz sicher aber “zeitnah” zu dem vereinbarten Zeitfenster kommen kann. Das wäre ja dann eine gute Gelegenheit, sich ein paar Gedanken über das sinnschwache Zeitnahgerede zu machen.