Interview mit Jonas Geißler in der Carpe Diem – Zeit für ein gutes Leben, 12/2019

INTERVIEW: Gabriele Kuhn

 

 

„Ich beobachte Menschen, wie sie mit Zeit umgehen“, sagt Jonas Geißler. Er ist Zeitforscher. „Ich denke darüber nach, warum sie das genau so tun und nicht anders – und was sie doch anders machen könnten. Und manchmal muss ich schmunzeln.“

Worüber müssen Sie denn schmunzeln?
Zum Beispiel am Freitagnachmittag, wenn ich den Flieger nehme, mit dem viele Manager von Düsseldorf nach München heimfliegen: Da wird der Flug­ hafen zur Bühne für ein Theaterstück der Gehetzten und der Entfremdeten, die mit Koffern bewaffnet auf und ab gehen und in ihre Geräte schreien oder tippen.

Sind diese Manager nicht einfach nur ein Symbol dafür, dass wir als Gesellschaft zu schnell leben?
Ja. Wir sind zu schnell geworden. Ich merke in meinen Seminaren, wie sehr immer mehr Menschen unter dem hoch­ getakteten Tempo unserer Gesellschaft leiden. Sie fühlen sich in ihrem Leben fremd, empfinden sogar so etwas wie Sinnentleerung. Das kann bis zu Be­ lastungserkrankungen führen – sogar bis zum Burnout.

Unsere Tage haben dieselben 24 Stunden wie vor tausenden Jahren. Wieso kommt es uns so vor, als würden sie viel zu schnell vergehen?
Das ist relativ einfach erklärt: Noch nie in der Menschheitsgeschichte waren wir so reich. Und zwar so reich an Gütern und so reich an Möglichkeiten, unsere Zeit zu nützen.

Sie meinen, unser Wohlstand macht uns Stress? Ganz viele Dinge helfen uns doch, im Alltag Zeit zu sparen. Früher kostete Wäschewaschen einen halben Tag, jetzt ist es ein Knopfdruck.
Jedes Gerät für sich mag Zeit sparen, natürlich. Aber das Entscheidende ist et­ was anderes: Vor hundert Jahren gab es in einem Haushalt ungefähr vierhundert Gegenstände. Heute sind es im Durch­ schnitt zehntausend. Sie alle verlangen unsere Aufmerksamkeit. Sie wollen ver­ wendet, verstaut, gewartet, gereinigt, re­ pariert, entsorgt werden. Und damit brin­ gen sie uns auch Stress, weil wir ständig über den Einsatz unserer Zeit entschei­ den müssen: Was mache ich zuerst, was lasse ich warten? Worauf konzentriere ich mich, was lasse ich sein?

Müssen wir nicht einfach akzeptieren, dass die moderne Zeit nach Multi­ tasking­Fähigkeiten verlangt?
Da gibt es einen Haken: Unser Gehirn ist nicht auf Multitasking ausgerichtet. Es kann nur eine Sache nach der anderen machen, nicht mehrere zugleich. Was wir als Multitasking verstehen – oder besser gesagt missverstehen –, ist der blitz­ schnelle, sprunghafte Wechsel zwischen unterschiedlichen Aufgaben. Und an den gewöhnt sich das Gehirn.

Das heißt, ich kann mein Gehirn dar­ auf trainieren, im Alltag zumindest so etwas Ähnliches wie Multitasking zu schaffen?
Das klingt nach einer gar nicht so schlechten Nachricht. Nun ja, das Gehirn ist immer ein Proto­ koll seiner Benutzung.

Was meinen Sie damit?
Was Sie mit „Training“ gemeint haben, funktioniert in beide Richtungen. In eine positive zum Beispiel, wenn ich ein Le­ ben lang Geige übe. Dann prägt sich ein ganz bestimmter Bereich im Gehirn im­ mer stärker aus. Genauso ist es im Nega­ tiven, wenn sich Menschen darauf kon­ ditionieren, immer schnell, schnell zu agieren, um viele kleine, aber eigentlich unwichtige Sachen zu machen. Das tut genauso etwas im Kopf wie Geige üben. Wenn ich mein Leben lang ständig nur – im wahrsten Sinne des Wortes, wie am Handy – weiterwische, schnell mal dort und hier und wieder weg bin, dann stellt sich im Gehirn ein bestimmtes Zeit­ wahrnehmungsmuster ein: kurz – kurz. Das kann man sogar im Gehirnscanner sichtbar machen. Ebenfalls messen kann man übrigens, dass unsere Aufmerksam­ keitsspannen sinken. Man könnte sagen: Wir trainieren durch unseren Lebensstil systematisch unsere Aufmerksamkeits­ spannen runter. Viele Menschen schaffen es gar nicht mehr, zwei, drei Stunden ein Buch zu lesen. Und hier schließt sich der Kreis. Denn wozu führt diese dauerhafte Sprunghaftigkeit in unserer Wahrneh­ mung der Zeit? Sie fliegt, sie verfliegt.

Und man hat das Gefühl, man hätte schon wieder zwei Stunden sinnlos vertrödelt.
Hätten Sie sie doch wirklich vertrödelt! Das wäre nämlich eine taugliche Gegen­ maßnahme zu stundenlangem Versump­fen auf Facebook. Trödeln gilt als zweck­ freie Zeit – doch gerade Trödeln, gerade das Zweckfreie täte uns gut.

 

„Zeitmanagement? Lassen Sie’s sein. Es geht nicht darum, noch mehr in den Tag reinzupressen.Es geht um die Kraft des Seinlassens.“

 

Aber wie komme ich aus diesem Strudel und kann meine Zeit besser managen?
Zunächst mal: Lassen Sie das mit dem Zeitmanagement sein. Es geht nicht dar­ um, noch effizienter zu werden oder noch mehr in den Tag reinzupressen. Es geht eher um die Kraft des Seinlassens. Dar­ um, weniger zu tun, das aber bewusster. Ums Gegensteuern, gegen einen Trend, der sogar den Schlaf oder die Entspan­ nung produktiv nützen möchte.

Gerade Schlaf und Entspannung stehen doch für dieses Seinlassen?
Aber nicht wenn sie als Tool eingesetzt werden. In der Achtsamkeitsmeditations­, Yoga­ und Ernährungsbewegung gibt es solche Tendenzen ganz deutlich: Da wer­ den Achtsamkeits­Apps aufs Handy ge­ laden oder Yoga­Kurse besucht, um noch leistungsfähiger, noch produktiver und fokussierter sein zu können. Ein Para­ doxon, das mir in meiner Arbeit ständig begegnet.

Ihre Antwort auf die Überforderung und Überfrachtung unserer Zeit lautet „Zeitkompetenz“. Zu der wollen Sie die Leute durch Ihre Vorträge und Seminare inspirieren. Was darf man sich unter diesem Begriff vorstellen?
Ein zeitkompetenter Mensch kann sich selbst und seine Umwelt beobachten: Wie gehe ich mit meiner Zeit um? Wie tun das andere? Was läuft dabei nicht so gut – und wichtig: Was läuft dabei gut? Dann ist es wichtig, wahrzunehmen, wo es hakt – und dass und wie es veränderbar ist. Durch Weglassen oder Abgeben.

Durch Weglassen und Abgeben gewinnt man Zeit zurück?
Indem man nicht mehr Dinge macht, sondern weniger. Die dafür wirksamer und sinnvoller, im Sinn von „voller Sinn“.

Was fang ich mit der gewonnenen Zeit an?
Die Versuchung, sie wieder­ um für etwas zu nützen, ist groß. Sehr groß, ja. Menschen tendieren dazu, frei gewordene, gewonnene Zeit wieder mit dem theoretisch unendlich großen Berg an Dingen zu füllen, die es rund um uns gibt. Dazu kommt, dass es in unserer Gesellschaft sehr wichtig gewor­ den ist – geradezu ein Statussymbol –, keine Zeit zu haben. Das gilt es eben­ falls zu reflektieren. Im Reflektieren liegt überhaupt der Schlüssel. Damit wird das Thema gestaltbarer: Wenn ich reflek­ tiere, bin ich nicht mehr Opfer der Zeit, sondern die Zeit ist auf meiner Seite.