in forum – Zeitung der katholischen Kirche im Kanton Zürich

3.1.2018

Karlheinz Geißler ist überzeugt: Die Zeiten, die zählen, sind die Zeiten, die nicht gezählt werden. Der Zeitforscher plädiert deshalb für einen lustvolleren Umgang mit der Zeit.

Karlheinz Geißler ist ein begehrter Mann. Auch mit 73 bietet er Zeitberatungen an, schreibt Bücher, hält Vorträge. Einmal pro Monat führt ihn seine Tätigkeit in die Schweiz. An diesem trüben Spätherbstmorgen nach Winterthur, wo er vor vollem Saal über die kostbare Ressource Zeit spricht, über unsere beschleunigte Gesellschaft und den Nutzen von Pausen. Dann nimmt sich der emeritierte Professor für Wirtschaftspädagogik Zeit für die forum-Journalisten. Alle Zeit der Welt, wie es sich anfühlt.

Herr Geißler, Sie mögen keine Termine. Und wenn, dann höchstens einen pro Tag. Nun treffen wir Sie nach einem Vortrag zu Lunch und Gespräch. Wie fühlen Sie sich?

Karlheinz Geißler: Nun, es reicht. Ich hielt bereits gestern einen Vortag, und heute wieder. Je älter ich werde, desto mehr spüre ich die Belastung. Diese Anstrengung erspare ich mir gerne – ich kann es ja inzwischen auch lockerer nehmen. Ich mag es, wenn die Vorträge in meinem Kopfnachhallen können. Meist zehre ich noch Tage von den Assoziationen, die sie auslösen. Diesen Schwung nütze ich am liebsten schreibend am Computer aus. Aber natürlich freue ich mich nun auch über die Begegnung mit Ihnen.

Wie viel Zeit geben Sie uns denn für das Gespräch?

Bis um 16 Uhr, wenn Sie wünschen – dann fahren wir zurück nach München.

Was ist eigentlich Zeit?

Das wissen wir nicht. Der Mensch hat keinen Zeitsinn. Er ist gezwungen, sich ein Bild von der Zeit zu machen. Diese Bilder variieren von Epoche zu Epoche, von Kulturkreis zu Kulturkreis, von Religion zu Religion.

Welches Bild ist für die westliche Kultur prägend?

Die Uhrzeit. Am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wurde in einem Benediktinerkloster die mechanische Uhr erfunden. Sie war vor allem ein Wecker und sollte den Mönchen helfen, ihre Gebetszeiten einzuhalten, auch in der Nacht.

Die Uhr wurde erfunden, um Gott zu huldigen?

Der Mönch hätte seine Erfindung wahrscheinlich gerne zurückgezogen, wenn er geahnt hätte, was er damit auslöste: Der bis dahin unstrittige Alleinherrscher über die Zeit, der biblische Gott, wurde enteignet. Der neue Gott war mechanisch. Fortan richteten sich die Menschen nicht mehr nach dem Sonnenstand und dem Krähen des Hahnes, sondern nach dem Glockenschlag und dem Uhrzeiger.

Ein folgenreicher Perspektivenwechsel.

Genau. Nun war die Zeit nicht mehr eine himmlische Angelegenheit, sondern eine Sache des menschlichen Willens. Der Mensch verstand sich als «Maschinist» der Zeit, die er zunehmend mit dem gleichsetzte, was die Uhrzeiger signalisieren. Seither fühlen wir uns als Herrscher, zugleich aber auch als Sklaven der Zeitmaschine «Uhr». Es ist ihr Ticken, das dem irdischen Dasein den Takt vorgibt, und zu Distanz des menschlichen Tuns zu den Rhythmen der inneren und äusseren Natur führt.
Wir leben in und mit beiden Zeitmustern, der Uhrzeit und der Naturzeit und ihren je unterschiedlichen Zeitvorgaben.

Ein Spagat.

So ist es. Während die Naturzeit unserem Empfinden zugrunde liegt und unser Leben pulsieren lässt, verspricht uns die Uhrzeit Güter- und Geldwohlstand. Denn nirgendwo feierte die Uhr grössere Erfolge als in der Ökonomie. Es ist allein die Uhrzeit, die sich in Geld verrechnen lässt. Die kapitalistische Wirtschaft macht die Uhrzeit zu einem Produktionsfaktor, der im globalen Wettbewerb über Gewinn und Verlust, materiellen Wohlstand oder Armut entscheidet.

Aber wenn wir heute von Zeit reden, meinen wir meist den Zeitmangel.

Selbstverständlich. Da wir Zeit in Geld verrechnen und Geld kein «Genug» kennt, kommen wir notwendigerweise unter Zeitdruck. Wir müssen immer schneller sein, noch effizienter arbeiten.

Noch nie hatten die Menschen so viel Freizeit, und doch steht in der Schweiz gemäss einer aktuellen Studie jeder dritte Erwachsene unter Dauerstress.

Freizeit ist ja nichts anderes als Zeit jenseits fremdbestimmter Arbeitszeit. Damit ist sie noch lange keine freie Zeit! Als Kehrseite der Produktionszeit wird sie zur Konsumzeit – und da all unsere Güter ausgesucht und eingekauft werden müssen, bereitet auch sie Druck. Arbeits- oder Freizeit: Wir kommen aus dem Stress nicht mehr raus.

Auch Zeit sparen bringt uns nicht wirklich weiter.

Zeitsparen funktioniert nicht. Liesse sich Zeit sparen, läge es ja nahe, die gesparte Zeit zu sammeln und zu lagern, um sie später zu nutzen. Es gibt aber kein Leben und auch kein Nachleben aus gesparter Zeit. Zeitsparen zaubert nicht ein Stück zusätzliche Zeit herbei, im Gegenteil, es führt zu verpassten Lebenschancen. Ich plädiere für’s Zeitlassen, schlage vor, Zeit mehr zu geniessen, sie bewusst und lustvoll zu leben.

Genauso wenig wie sich Zeit sparen lässt, lässt sie sich verlieren oder managen. Zeit lässt sich nicht in den Griff bekommen. Sie ist ungreifbar. Ich habe nicht die Zeit – ich bin die Zeit.

Nun eilt aber nicht jede Zeit. Beim Zahnarzt zum Beispiel scheint sie sich ins Unendliche zu dehnen.

Das hat mit unserem unterschiedlichen Zeitempfinden zu tun. Bei attraktiven Erlebnissen, von denen ich nicht genug bekomme, scheint mir die Zeit immer zu kurz. Entsprechend schnell vergeht sie in meinem Empfinden. Umgekehrt scheint sich die Zeit auszudehnen, wenn ich etwas Unattraktives erlebe, das ich möglichst schnell hinter mich bringen möchte.

Verändert sich das Zeitempfinden mit dem Alter?

Wenn man älter wird, ist jeder Tag, den man lebt, ein Tag weniger, den man zu leben hat. Es geht dem Ende entgegen, und man hat den Eindruck, dass der Rest immer schneller immer weniger wird. Aber der eigentliche Grund ist ein anderer: Je älter ich werde, desto häufiger erlebe ich Szenen wieder, die ich schon genau so oder ähnlich erlebt habe. Wenn man aber etwas Neues erfährt, hinterlässt das Gedächtnisspuren. Wiederholungen, Routine fliegen als leere Zeiten unter den Händen weg.

Karlheinz Geißler  kommt aus zwei Zeitwelten: Als Wirtschaftspädagoge hat er gelernt, wie man Minuten in Geld zählt. Und er weiss, wie man sie in Zuwendung misst. «Time is money», formulierte Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, bereits 1748. Sie sollte aber, sagt Karlheinz Geißler, vermehrt wieder «honey» sein, süss, lebendig, bunt: «Es ist an der Zeit, Geld durch ein nahrhaftes Lebensmittel zu ersetzen.»

Zu seiner Gelassenheit fand er allerdings nicht ganz freiwillig: Er erkrankte als Kind an Polio, musste den aufrechten Gang zum zweiten Mal lernen und benutzt seither eine Krücke zum Gehen oder fährt im Rollstuhl. Für manche Dinge braucht er etwas länger, beschleunigen konnte er nie. Dabei hat er erkannt: Die Schnellen kommen auch nicht unbedingt weiter.

Seit über 30 Jahren lebt er nun ohne Uhr am Handgelenk. Und er plädiert für Let-it-be-Listen anstelle von To-do-Listen: Zeit frei lassen, statt immer noch mehr in sie hineinzupacken.

Zeitnot und übersteigertes Tempo scheinen ausschliesslich menschliche Phänomene zu sein. Meine Katze und meine Pflanzen scheinen dies nicht zu kennen. Woran liegt das?

Nur der Mensch weiss, dass er auf den Tod zusteuert, Tiere und Pflanzen nicht. Damit hat der Mensch die Knappheit aus Prinzip mitbekommen. Das Endmass setzt uns unter Zeitdruck.

Meine Katze will ihr Leben auch nicht vollpacken …

Unser Drang, möglichst viel in unser Leben zu stecken, hat mit der verlorenen Transzendenz zu tun. Wenn ich davon ausgehe, dass der Tod das definitive Ende ist, gerate ich unter Zeitdruck. Weil ich ja dann alles Leben in diesem einen Leben unterbringen muss. Eine schwierige Aufgabe, an der ich notgedrungen scheitere. Wo ich aber an ein Leben nach dem Tod glaube, kann ich gelassener mit meiner Zeit umgehen.

Dann dürften Christen keine Zeitprobleme kennen.

Auch Christen denken nicht immer ans jenseitige Leben. Uns wird aberzogen, überhaupt ans Jenseits zu denken: Wir sollen alles im Diesseits verzehren, weil wir Zeit in Geld verrechnen. Dies aber können wir nicht im Himmel – das können wir nur auf Erden.

Aber generell machen die Kirchen schon vieles richtig im Umgang mit der Zeit, nicht wahr?

Unbedingt! Mit ihren Feier- und Festtagen, aber auch Buss- und Fastenzeiten, mit Gebeten, Wallfahrten und Gottesdiensten unterlegen und konturieren sie das Jahr mit einem rhythmisierten Verlauf. Damit stellen sie für die Menschen und die Gemeinschaft eine orientierende, lebendige Zeitordnung bereit. Das Kirchenjahr teilt die Zeit nicht ein, es ist sie. Zumindest wurde dies in früherer Zeit so wahrgenommen.

Bis heute bewahren wir diesen reichen Schatz an rhythmisch wiederkehrenden Ereignissen im Kirchenjahr auf und lassen ihn gerne immer wieder lebendig werden.

Ich setze mich im evangelischen Kirchenrat seit Jahren für die Bewahrung der lebendigen Zeiten des Kirchenjahres und für die Pflege des verkaufs- und arbeitsfreien Sonntags ein.

Inzwischen hat nicht nur der Kirchenkalender an Bedeutung verloren, auch die Uhr wird weniger wichtig. Wir können im Internet 24 Stunden am Tag shoppen und mit unseren Freunden quer über den Erdball chatten. Wir können auch alles gleichzeitig tun. Eine neue Freiheit?

Zunächst eher ein neuer Druck: Wir müssen unsere Zeit mit möglichst vielen Terminen, Fristen und Aktivitäten verdichten, immer mehr zur gleichen Zeit machen. Dazu fordern uns die neuen Kommunikationsmittel geradezu auf. Wir sind ja ständig und überall erreichbar – und immer flexibel.

Dies gibt natürlich Freiheit – sie hat jedoch ihre Kehrseite: Alte Zeitgewissheiten schwinden. Wir müssen uns immer wieder neu im Meer der «Zeitlosigkeit» verorten. Eine Daueraufgabe, die im 21. Jahrhundert zu einer Dauerbelastung mit Überforderungscharakter wird.

Was raten Sie uns?

Wo Zeit das Problem ist, ist Rhythmus die Lösung. Rhythmisch pulsiert nicht nur unsere innere Natur, sondern auch unsere natürliche Umwelt – und auch die soziale Mitwelt. Sich als Teil der Natur mit ihren Rhythmen zu erleben, ist eine wesentliche Voraussetzung für unser Wohlergehen und unsere Vorortung in der Welt.

Wir sollten vermehrt Rituale, Gewohnheiten und Bräuche pflegen und auch Zeitformen schätzen, die nicht verdichtbar und beschleunigbar sind: Pausen, Wartezeiten und Übergänge. Sie können zwar nicht in Geld verrechnet werden und werden deshalb von unserer Gesellschaft auch nicht prämiert. Sie sind jedoch genauso produktiv und entsprechend wertvoll.

Wir beklagen uns chronisch über Zeitmangel, doch ist keine Zeit zu haben ein Statussymbol.

Natürlich ist es chic, keine Zeit zu haben. Wenn Zeit in Geld verrechnet wird, geraten diejenigen, die genug Zeit haben, in Verdacht, keine Möglichkeit zu haben, Zeit in Geld zu verrechnen. Arbeitslose zum Beispiel oder Menschen mit Rollator.

Mit solch bedauernswerten Zeitgenossen möchten die, die ihr Leben der Gewinnmaximierung verschrieben haben, nicht verwechselt werden. Demonstrativ artikulierter Zeitmangel ist die beste Strategie, dies zu verhindern.

Inzwischen sind Auszeiten im Kloster oder Wellnessferien im Trend. Ein Hoffnungsschimmer?

Sicher ein Ausdruck der Sehnsucht nach Qualitäten, die wir durch Hetze und Zeitnot verloren haben: Ruhe, Gelassenheit, Aufmerksamkeit, Sensibilität. Es ist ein Gegentrend zum laufenden Trend, doch er hält die Beschleunigung nicht auf. Und auch er stabilisiert unser Wirtschaftssystem, denn auch aus dieser Sehnsucht lässt sich ein Geschäft machen.

Warum hat die Langeweile einen schlechten Ruf, wo wir uns doch nach mehr freier Zeit sehnen?

Weil wir sie üblicherweise mit negativen, quälenden Zeiterfahrungen verbinden: uninteressante Schulstunden, als überflüssig empfundene Meetings, überlange Fahrten im Zug oder Auto.

Dabei mangelt es uns heute gerade an langer Weile, das sind Orte und Zeiten des Verweilenkönnens und Verweilendürfens, des Innehaltens, des Zusichkommens und des Wohlergehens. «Gut Ding» will auch heute lange Weile haben. Lange Eile haben wir genug.

Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Jahr. Was wünschen Sie uns für 2018?

Ich wünsche uns ein bisschen mehr abgebremste, nachdenkliche Zeiten. Und weniger Kurzfristigkeit, dafür mehr Zeit, um längerfristige Entscheidungen zu treffen. Gerade auch in Wirtschaft und Politik. Um uns selbst und der Demokratie willen.

Wir haben uns viel Zeit gelassen mit dem Gespräch. Karlheinz Geißler ist so anregend wie unkompliziert. Nun aber möchte er vor seiner Heimfahrt nach Deutschland noch Schweizer Käse einkaufen. Wie immer, wenn er hier ist. Er liebt Käse. «Organisieren Sie Ihren Alltag wie Emmentaler Käse: mit festen Strukturen durch Rituale und Termine – und mit nicht allzu wenig Löchern, in denen Sie die Zeit frei auf sich zukommen lassen», sagt er zum Abschied.

Text: Pia Stadler