National Geographic, 7. April 2017

 

Eigentlich bekommt jeder täglich dieselbe Menge an Zeit geschenkt. Warum aber empfinden es die meisten von uns anders? Wie kommt es, dass sich manche Menschen ausgebrannt und gestresst fühlen? Zeitberater Jonas Geißler kennt die Antwort, das Problem – und eine Lösungsstrategie.

Herr Geißler, wie lange haben wir heute Zeit für unser Gespräch?
Etwa eine Stunde, reicht Ihnen das? Ich habe erst vor einigen Tagen ein Fernsehinterview gegeben. Das sind dann immer so kurze Sequenzen. Ich mag es lieber, mehr Zeit zum Sprechen zu haben.

Sie ziehen also den Rhythmus dem Takt vor?
Wer tut das nicht?

Sie verwenden diese Begriffe häufig. Würden Sie kurz erklären, was es damit auf sich hat?
Der Takt ist das Zeitmuster der Maschinen. Er ist ein Ablauf ohne Abweichungen. Wir haben ihn mit der Erfindung der Uhr vor etwa 500 Jahren eingeführt. Das war der Punkt, an dem wir angefangen haben, unseren Rhythmus zu vertakten: Seitdem hatte eine Stunde immer 60 Minuten, eine Minute immer 60 Sekunden. In der Natur existiert dieser Takt nicht. In der Natur gibt es Rhythmen, Wiederholungen mit Abweichungen. Unser Körper etwa besteht aus einer ganzen Symphonie aus Rhythmen, wie der Verdauung oder dem Herzschlag. Ist ein natürlicher Rhythmus unseres Körpers überlastet, wird er krank. Das kann sich auf verschiedene Arten äußern. Die einen erleiden einen Burnout, andere klagen über Rückenschmerzen.

Wann hat es begonnen, unser Dilemma mit der Zeit?
Ursprünglich waren alle unsere Uhren abhängig von der Natur: die Sonnenuhr, die Wasseruhr, die Kerzenuhr. Doch die waren uns zu unpräzise. Es waren Mönche in Norditalien, die als erste Wecker brauchten. Benedikt von Nursia hatte strenge Gebetszeiten festgelegt und so begannen sie, ihren Tag in Stunden einzuteilen. Schnell stellten Herrscher fest, dass sie damit nicht nur über den Raum, sondern auch über die Zeit bestimmen konnten. Bald darauf fanden Handelsleute Gefallen an der Uhr. Sie haben erkannt, dass sie die Zeit zwar nicht vermehren, aber zu Geld machen können. Und Geld kann man vermehren. Die Menschen haben also die Natur vollkommen verdrängt, um aus der Zeit Kapital zu schlagen.

Wie kann es sein, dass wir fühlen, als würde uns die Zeit gestohlen – das einzige Gut, das gerecht und ständig neu verteilt wird?
Wir haben zwar dieselbe Zeit zur Verfügung, aber einfach immer mehr zu tun. Es gibt diesen schönen Vergleich: Ein Pendler, der heute in New York 30 Minuten zur Arbeit fährt, hat mehr Kontakt zu anderen als ein Mensch im Mittelalter in seinem ganzen Leben. Wir sammeln viel mehr Eindrücke, die wir verarbeiten müssen. Das können wir aber auch an anderen Stellen beobachten. Man braucht sich nur unsere Haushaltsgegenstände anzusehen. Durchschnittlich besitzen wir 10 000 Dinge. Und um all diese Dinge müssen wir uns kümmern. Sie müssen genutzt, geputzt und gewartet werden.

Sie raten, Let-it-be- anstatt To-Do-Listen zu schreiben. Machen Sie Let-it-be-Listen? 
Ja, ich schreibe immer mal wieder solche Listen, wenn ich merke, dass mir der Kopf schwirrt. Dann sammle ich Dinge, die ich mir vorgenommen habe, aber nun doch nicht umsetzen werde. Auf meiner letzten Liste standen etwa die Aktualisierung meiner Webseite, ein privates Bauprojekt, Schreib- und Leseprojekte. Ich wollte auch schon lange das Gitarrespielen lernen. Aber dann dachte ich mir: „Lass es doch einfach sein.“ Manchmal muss man auch loslassen können.

Das schaffen wir aber leider viel zu selten.
Wir haben heute selten freie Zeit. Lücken in unserem Terminkalender müssen wir sofort füllen. Dabei könnten wir unsere Zeit zumindest ein wenig mitgestalten – und auch beeinflussen, wie wir sie wahrnehmen.

Ganz klassisch nach dem Motto: „Nicht dem Leben mehr Zeit, sondern der Zeit mehr Leben geben“?
So in etwa. Prinzipiell gibt es zwei Phänomene, die erklären, wie wir unsere Zeit wahrnehmen. Wir sehen sie nämlich immer in Relationen. Und zwar zum einen in Relation zu unserer gelebten Zeit: Ein Jahr verglichen mit zehn Jahren Lebenszeit erscheint weitaus länger als ein Jahr verglichen mit 50 Jahren Lebenszeit. Zum anderen reagiert unser Gehirn auf neue Geschehnisse. Was unbekannt ist, wird registriert und nicht einfach in dieselbe Schublade mit den bisherigen Erfahrungen gesteckt. Daraus folgt, dass wir die Zeit als länger wahrnehmen. Man könnte es auch Zeitverlängerungsmaßnahme nennen.

Glauben Sie, dass Sie mehr Zeit haben als andere oder Ihre Zeit anders wahrnehmen?
Nun, ich weiß nicht, wie gestresst sich andere fühlen. Aber ich kann sagen, dass mein Umgang mit der Zeit mir entspricht. Jeder hat seinen eigenen Rhythmus. Natürlich ist es manchmal herausfordernd, ihm zu folgen – ich bin Vater von drei Kindern. Aber ich habe keinen dauerhaften Stress. Jeder muss für sich selbst herausfinden, wann es anfängt zu schaden. Prinzipiell entsteht Stress, wenn Reize auf ein Verarbeitungssystem wie beispielsweise unser Gehirn treffen. Wir unterscheiden dabei aber zwischen gutem und schlechtem Stress. Positiver Stress erhöht etwa die Aufmerksamkeit, während negativer Stress uns daran hindert, mit unserer Arbeit voranzukommen.

Zeit wird heute aber oft auch mit sozialem Status gleichgesetzt.
Hat jemand in der Arbeit kaum Zeit, wird er als wichtig und gefragt wahrgenommen. Natürlich ist es bis zu einem gewissen Grad schön, gebraucht zu werden. Auch das Jammern über Zeitnot hat eine hohe gesellschaftliche Funktion. Diejenigen, die Zeit haben, werden kritisch beäugt. Aber in meinen Seminaren geht es darum, sich auch einmal Auszeiten zu erlauben. Je nach Situation kann es sogar eine Maßnahme sein, Mitarbeiter dazu zu motivieren, einfach mal nichts zu machen. Und es gab in dieser Hinsicht auch schon Fortschritte. Auf unternehmerischer Ebene findet ein Umdenken statt. Mails am Sonntag zu beantworten, wird zum Beispiel zunehmend ungern gesehen.

Sie helfen anderen Menschen, Ihre Zeit besser zu nutzen. Was raten Sie am häufigsten?
Wir sollten uns fragen, für welche Dinge wir uns zu wenig Zeit nehmen. Eines vorweg: Es werden immer die gleichen Antworten sein. Wir wollen mehr Zeit mit Freunden und in Beziehungen verbringen, glücklichere Momente erleben und mehr Mut aufbringen, um das eigene Leben zu leben. Die Zeiten, die im Leben zählen sind jene, die wir nicht zählen.

Und wie machen wir das?
Indem wir Ressourcenzeiten einplanen. Von denen haben wir eigentlich mehr als genug, wir müssen sie nur wahrnehmen: Zeiten, in denen wir uns Dingen widmen, die wir gerne tun – oder in denen wir einfach alles sein lassen. Wir sollten uns Termine freihalten. Wir können uns auch Oasen der Entschleunigung suchen: zum Wellness gehen, Yoga machen oder einfach das Handy ausschalten. Schaffen wir uns Zeiträume, um unsere Fähigkeit der Serendipität zu kultivieren – jene Fähigkeit Dinge zu finden, nach denen wir nicht gesucht haben. Und im Alltag sollten wir uns auf das konzentrieren, wofür wir dankbar sind. Wir sollten nicht über Zeitnot jammern. Wir haben keine Zeitnot, die Zeit kommt ständig nach. Das einzige, woran es uns mangelt, ist die Einsicht, dass wir die wirklich wichtigen Dinge nicht takten sollten.

Jonas Geißler wurde 1979 in München geboren. Nach seinem Soziologie- und Medien-Management-Studium arbeitete er als Trainer, Coach und Berater für unterschiedliche Organisationen sowie als Lehrbeauftragter an der LMU München. Mittlerweile führt er gemeinsam mit seinem Vater das Zeitberatungsinstitut timesandmore. Kürzlich veröffentlichten die beiden das Buch „Time is honey. Vom klugen Umgang mit der Zeit“. Die Botschaft, die sie darin vermitteln wollen: Wir dürfen Zeit nicht länger als unseren Feind sehen. 

 

 

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