Karlheinz Geißler, 16.03.2020

 

Vor ein paar Tagen war die Welt noch in Ordnung.
Wir waren sicher, in einer Demokratie zu leben, einer Gesellschaftsform in der sich die Herrschenden auf den Willen des Volkes berufen. Seit etwa vier Wochen folgen die Regierenden nicht mehr dem Wollen ihrer Bürger und Bürgerinnen, sondern den Imperativen eines unberechenbaren Virus.
Wir leben in einer Virokratie, eine politische Ordnung von der wir bis vor einem Monat nicht wussten, dass es sie gibt und wie sie funktioniert. Bis heute wissen wir nicht wie sie funktioniert, was aber viel schlimmer ist, auch diejenigen wissen es nicht, die uns regieren.
Vieles ist anders geworden und so wie es aussieht, wird auch noch vieles anders als gewohnt.

Die dünne Schicht der Normalität, allem voran die der Zeitnormalität zerbricht. Hatte es sich bisher stets ausgezahlt, eher keine Zeit zu haben, sind jetzt diejenigen Zeitgenossen im Vorteil, die Zeit haben. 
War Zeit für den homo smartphonensis bisher eine Ansammlung von knappen Terminen, Fristen und Deadlines, so hat dieser jetzt Zeit genug und einen leeren Terminkalender dazu.
Die Selbstvergewisserung: „Ich eile, also bin ich“ funktioniert nicht mehr und die zur Demonstration der eigenen Bedeutsamkeit oft und gerne eingesetzte Floskel: „Tut mir leid, keine Zeit!“ läuft jetzt auch ins Leere. So schnell war Entschleunigung noch nie. Mit dem Winter verzieht sich das Zeitmangelleben!
„Ich bremse, also bin ich“. Das ist nicht mehr die „Immer-auf-dem-Sprung“ Welt, die wir noch vor ein paar Wochen für die richtige hielten. Dann doch lieber wieder Versäumnisängste, strapazierte Nerven und Zeitdruck ohne Ende, statt Klopapierhorten, Dauerhändewaschen, Verabredungen absagen und Termine canceln.

Und doch, wir werden, ob wir wollen oder nicht, lernen müssen was wir in unserem faustischen 
Größenwahn ignoriert, verdrängt und vergessen haben. Nicht: „Was kann ich tun und alles noch tun?“ ist die Frage des Überlebens, das ist sie nur in enger Verknüpfung mit der Frage: „Was kann ich lassen, auf was kann ich verzichten?“ Ums „Lassen“ geht’s in den Zeiten der Virokratie. Dabei wird’s nicht mit dem Verzicht auf‘s Händeschütteln getan sein. Eher schon mit einem Wechsel vom Gaspedal auf‘s Bremspedal und mit weniger Globalisierung. „Tempo rausnehmen!“ so lauten die eindringlichen Appelle der Politiker an ihre Landsleute. Keine schlechte Idee!
Zumindest kann man dabei erleben: „Dass es so leicht ist, nichts mehr tun zu wollen. Dass es uns so schwer fällt, wirklich nichts zu tun.“ (E. Bloch).