Das Magazin der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik widmet die aktuelle Ausgabe dem Thema “Muße in der digitalen Welt.” Mit Beiträgen u.a. von Dr. Ulrich Schnabel (ZEIT), Olaf Georg Klein und Karlheinz und Jonas Geißler (Seite 9).

 

 

 

Muße in digitalen Zeiten

Jonas und Karlheinz Geißler, 2018

 

Polt:„Was machen’s denn sonst immer so?“
Grünmandl:“Ja mei, eigentlich nix … Na, nix is’ vielleicht zuviel gesogt.“
Polt:“Ja sagenhaft! Da machen Sie solche Sachen!“
(Dialog zwischen dem Bayern Gerhard Polt und dem Tiroler Otto Grünmandl)

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„Muße“- ein Wort so verstaubt wie der „Sonntagsspaziergang“. Trotzdem verzichtet kein marktgängiger Karriereberater, die Muße als Garantin eines erfolgreichen, eines stressfreien und glücklichen Lebens und Arbeitens anzupreisen. Begründet wird das durch die Erkenntnis, dass das zufrieden machende Leben nicht nur das Ergebnis gut gemanagter, perfekt geplanter und bis an die Grenzen des Erträglichen beschleunigter Tempi ist. Auch das Nichtstun gehört zum guten Leben und den besseren Zeiten. Denn „beim Nichtstun bleibt nichts ungetan“ (Lao Tse).

Wir alle kennen Zeitzustände, die sich verflüchtigen, die ihre Qualitäten verlieren, wenn sie absichtlich angestrebt und bewusst gewollt werden. Der Schlaf zählt dazu. Davon können all jene erzählen, die an Insomnie (Schlafstörungen) leiden und sich willentlich ums Einschlafen bemühen. Auch die Lebens- und die Zeitqualität fördernden Zustände wie Spontaneität, Humor, Glück und eben auch die Muße gehören zu den nicht mit Absicht kalkulierbaren Zuständen. Planung, Steuerung, Management entziehen der sich selbst genügenden Zeitform „Muße“ die Basis. Muße ist zwecklose Zeit, Muße ist nutzlose Zeit, sinnlose Zeit aber ist sie nicht. Die Bedingungen für Mußezeiten lassen sich bewusst verbessern, das Mußeerlebnis selbst aber kann man nur erhoffen, nicht aber beherrschen. Das haben Muße und Liebe gemeinsam. Auch die Liebe ist ein dem Augenblick zugewandtes Zeitleben mit Selbstzweckcharakter. Beide gehören daher zum schwer machbaren Einfachen.

Den Zeiten der Muße begegnet man nur jenseits der Uhr, wo es keine Rolle spielt, ob die Zeiger auf fünf vor Zwölf oder zwölf vor Fünf stehen. Die Tore zu ihren blühenden Gärten öffnen sich nur für Zeitgenossen, die fähig und willens sind, die zwanghaft organisierten Hoheitsgebiete der Zeiger und Ziffernblätter zu verlassen. Rousseau war einer, dem das gelang. In seinen „Bekenntnissen“ schildert er, wie es ihm in diesen paradiesischen Gärten der verfügbaren Zeiten, über die nicht verfügt wird, ergangen ist: »Die Muße, die ich liebe, ist nicht die eines Nichtstuers, der mit gekreuzten Armen in völliger Untätigkeit verharrt und nicht mehr denkt, als er handelt … Ich beschäftige mich gerne mit Nichtigkeiten, beginne hundert Dinge und vollende nicht eins, gehe und komme, wie es mir einfällt, wechsle in jedem Augenblick den Plan, folge einer Fliege in all ihren Flügen …, kurz, ich schlendere am liebsten den ganzen Tag ohne Plan und Ordnung umher und folge in allem nur der Laune des Augenblicks.«

Muße als ein sich selbst genügender Zustand braucht schwebende Zeiten und offene Situationen, in denenmansichindenaufeinenzukommendenZeitentreibenlassenkann. MußeistverfügbareZeit über die nicht verfügt wird (Adorno). Gott der Muße ist Kairos, den sich die Griechen als göttliches Wesen von leichtfüßiger Gestalt mit kahlem Hinterkopf und Stirnlocke ausgemalt haben, an der man den schicksalhaften Moment, den günstigen Augenblick, zumindest für eine kurze Zeit festhalten kann.

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Ein Blick in die Geschichte: In annähernd allen antiken Hochkulturen wurden die Vielgeschäftigkeit, die Ungeduld und die Hetze verachtet, während den abgebremsten Zeitqualitäten, darunter der Langsamkeit, der Geduld und der Beharrlichkeit, vor allem aber der Gelassenheit und der Zurückhaltung produktive Kräfte zugeschrieben wurden. Die Menschen der antiken Hochkulturen waren sich sicher, dass Mitmenschen, die schneller als das Leben sein wollten, Probleme mit der Wirklichkeit, Schwierigkeiten mit ihrer Wahrnehmung und mit der Realitätseinsicht bekommen. Ihre Dichter besangen die Trägheit, ihre Philosophen verachteten die Arbeit und der wohnsitzlose Athener Freigeist Diogenes predigte den Verzicht auf überflüssige Bedürfnisse. Das ist heute ganz anders. Die spätmoderne Gesellschaft sieht das in der Antike als Zeichen der Würde gepriesene und als Ausweis der Lebensklugheit, der Selbstachtung und Selbstsorge geschätzte bedächtige Tempo nur mehr für Personen im gesetzlich geregelten Rentenalter vor.

Die Philosophen und die Theologen des Mittelalters kannten noch zwei Pfade die zu einem erfüllten und beglückten Leben führten. Einen über die Aktivität (vita activa) und einen zweiten über die Beschaulichkeit, die Kontemplation (vita contemplativa). Als die Menschen noch kompetenter im Nichtstun waren, besaß die vita contemplativa, das betrachtende und beschauliche Dasein, einen hohen, der vita activa zuweilen sogar übergeordneten Status. Selbst für den strengen Thomas von Aquin war das so: »Es ist also zu sagen, dass das beschauliche Leben schlechthin besser ist als das tätige Leben«.

Mit dem 17. Jahrhundert vollzog sich in Europa ein grundlegender Bedeutungswandel der Muße. Ihre Attraktivität, ihre positive Ausstrahlung verblassten in dem Augenblick als der Gottesdienst mit dem Namen „Arbeit“ begann. Das Historische Wörterbuch der Philosophie spricht vom »Verlust« der vita contemplativa mit fortschreitender Modernisierung und Goethe beklagte, „dass diese Welt für die Ruhigen und die Müßigen keinen Platz mehr hat“.

Zu dieser Zeit begann man den Aktivitäts-Pfad zu einer mehrspurigen Schnellstraße auszubauen, während man den Weg der Beschaulichkeit zum unattraktiven Grünstreifen zwischen den Hochgeschwindigkeitsstrecken der Aktivität verkümmern ließ.

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Mit dem derzeit zu beobachtenden Rückzug der Industriegesellschaft und dem Sprung ins Zeitalter der Algorithmen vollzieht sich erneut eine Umwertung der Muße. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Zeiten der Muße, die vordergründig den Zeit-ist-Geld Prinzipien der kapitalistischen Ideologie widersprechen, in der Zwischenzeit marktfähig wurden. Das im Spätkapitalismus einem Naturgesetz gleichkommende Diktat der Ökonomie verlangt von annähernd allen Zeiten, dass sie sich in Geld

verrechnen lassen. Im Innenraum dieser Logik gibt es Muße, doch wenn, dann nur als Produkt, als Marke, als marktfähiges Angebot.
Konkret heißt das: Mit Muße, dem Gegenentwurf einer von Hochgeschwindigkeiten, Zeitverdichtung und Überforderung gezeichneten Lebenswirklichkeit, lässt sich heutzutage Geld verdienen. Das „Do- nothing Weekend“ in einem westirischen Cottage ist für 3000.- Euro zu haben, das „Dolce far niente Arrangement des sinnlich-süßen Nichtstuns unter italienischer Sonne“ in der Chianti Region bereits für die Hälfte, die Gelassenheits-App für deutlich weniger und das Beratungsangebot zur Burnout-Prophylaxe:„Zeit für Muße finden“ ist eine Sache individueller Vereinbarung. Im 21. Jahrhundert gehören die geschätzten Zeiten des „Zu-sich-selbst-Kommens“ zum gut gefüllten Requisitenfundus des Zeittheaters. Muße ist, so die Werbeversprechen, das probate Mittel, dem herrschenden, zwischen Übereiltheit und Terminhetze, überdrehtem Alltagstempo und drohendem Burnout eingeklemmten Leben zu entkommen.

Als Muße 4.0 lebt die Muße weiter. Sie sorgt für steigende Umsätze im Beratungsgewerbe, in der Wellness- und Gesundheitsindustrie und bei freiberuflichen Zeitberatern. Auch gibt es mittlerweile unzählige Produkte auf dem Markt der Möglichkeiten (Apps, Uhren, Messgeräte, etc.), die, was die Wahlfreiheit, die Erreichbarkeit und die Optionsvielfalt betrifft, Entlastung anbieten. Zugleich machen sich Initiativen bemerkbar, die anbieten, dem Trend der Zeitverdichtung und der Vergleichzeitigung Einhalt zu gebieten. Sie versprechen Unterstützung bei stressreduzierten Zeiterfahrungen, wie dem spätmodernen „Chillen“ und „Cornern“ und eröffnen auch der Muße neue Chancen.

Exemplarisch dafür die weltweite Nadism Bewegung , die von dem brasilianischen Designer Marcelo Bohrer ins Leben gerufen wurde. Nadism ist als eine soziale Bewegung konzipiert zur Förderung der „Kunst“, Momente des Nichtstuns zu geniessen (the art of enjoying moments doing nothing). Neben Treffen von Gleichgesinnten zu vereinbarten Zeiten an schönen Orten, die dem Nichtstun fröhnen und als Einladung zur Muße verstanden werden können, bietet der Club eine App an, die jegliche Aktivitäten des Smartphones für eine selbst-bestimmbare Zeit unterbindet. Das Konzept versteht sich nicht als Dienstleistung sondern als kostenfreien Zugang zu den qualitativen Möglichkeiten des Müßiggangs und der Muße.

Andere Muße-Angebote richten sich an nostalgieanfällige spätmoderne Zeitgenossen, die jenen verlorenen Lebenswelten nachtrauern, in denen das Leben noch Dasein war und kein Geschäft. Solch rückwärts gewandten Sehnsüchten hat der große französische Ethnologe Levi-Strauss mit seinem Hinweis, dass vom Gekochten kein Weg zurück zum Rohen führe, eine unmissverständliche Absage erteilt. Und trotzdem besteht die Sehnsucht nach den „guten alten Zeiten“ weiter, obgleich kein vernünftiger Mensch ernsthaft mit dem Gedanken spielen kann, aus der Wurst wieder ein Schwein machen zu können. Erfolgreicher beim Rennen um die besten Plätze in dieser zunehmend digitalisierten Gesellschaft sind jedoch die Realisten, die sich von ihrem digitalen Organizer sagen lassen, dass es mal wieder Zeit für so etwas wie Muße ist.

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Der spätmoderne Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, der seine problematischen Folgen selbst zu heilen weiß, macht mit der Muße eine Zeitform zu einem Geschäftsmodell, die in der Epoche der Industriemoderne als hinderlich und als Bedrohung wahrgenommen wurde. Die Probleme, die er verantwortet – Unruhe, Hetze und Pausenlosigkeit zählen dazu – macht der auf Touren gebrachte Kapitalismus u.a. dadurch profitabel, dass er Muße dort als ein knappes Gut vermarktet wo ehemals Beschaulichkeit war und heute Erschöpfung. Paradoxer Logik folgend wurden die Muße-Bedürfnisse und die Wünsche nach einem »Ausstieg auf Zeit« inzwischen in den Geldkreislauf integriert und in den Marktsegmenten »Wellness« und »Entschleunigung« zur Umsatzsteigerung genutzt. Kurzum, die Muße ist, wie vieles andere auch, heute ein Produkt, das sich auf dem Markt und bei den Kunden bewähren muss. Als „Sorge um sich selbst“ (Foucault) erlebt sie im Umfeld des umtriebigen Zeit-ist-Geld Denkens als eine marktgerechte Renaissance bei der man, einen verständnisvollen Vorgesetzten vorausgesetzt, sogar auf einen Firmenzuschuss spekulieren kann. Die Muße, so wie sie heute verstanden und angeboten wird, ist weder der Fluchtweg aus dem Hamsterrad des Zeitdrucks noch zeigt sie diesen auf. Sie ist eine bei den Nachfragenden auf Kurzzeiteffekte zielende Optimierungsstrategie für den gut verdienenden Zeitverdichter unserer Tage und daher nicht viel mehr als ein kurzer topp bei laufendem Motor. Das aber heißt: Geht es heute um Muße, geht es nicht um das, was früher einmal darunter verstanden wurde. Die digitalisierte Muße von heute zielt vor allem auf ein „Sich-selbst-Bedenken“ zum Zweck des Erhalts, mehr noch des Wachstums individueller Belastbarkeit, des Durchsetzungsvermögens und der Erhöhung der Widerstandskraft. Kurz gesagt, es geht vornehmlich darum, die „Akkus“ neu aufzuladen, um aus dem Muße-Modus heraus wieder richtig Gas geben zu können. Solche Sorge um sich selbst als ein karriereorientierter Wirtschaftsbürger ist meilenweit von jener Muße entfernt, die der Romantiker Schlegel als den „letzten Rest von Gottähnlichkeit, die uns aus dem Paradies noch blieb“ beschrieb.

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Der Zeitgeist, in dem die katholische Kirche gerne den Teufel erkennt, offeriert eine bunte Kollektion an Angeboten zur Muße-Erfahrung über die digitalen Medien. Ein Klick, ein Wisch und man bekommt mehr geliefert, als einem lieb ist: „Beginnen Sie Ihre Reise zu einem gelasseneren und gesünderen Geisteszustand mit der Achtsamkeits App. Egal, ob Sie gerade erst anfangen oder bereits Erfahrung mit Meditation haben – die Achtsamkeits App mit unbegrenztem Zugang zu über 200 Meditationen und Kursen von einigen der weltweit bedeutendsten Achtsamkeitslehrern (meist in Englisch) wird Ihnen helfen, präsenter in Ihrem täglichen Leben zu werden.“ „7Mind bietet dir die Option, die du gerade brauchst. Mit individuellen Empfehlungen, kleinen Erinnerungen und maximaler Flexibilität, am Rechner, auf dem Tablet oder Smartphone“.

Im Dickicht der digitalen Vernetzung entwickeln sich neben den „little helpers“ auch soziale Bewegungen, die über Beziehung und Austausch ermutigen, sich (zeitweise zumindest) Initiativen gegen die „Genug-ist-nicht-genug“ Zumutungen des Alltags anzuschließen. Dazu gehören die Postwachstumsbewegungen, die Suffizienzinitiativen oder Interessengemeinschaften wie „The Idler“ (Faulenzerverein) aus Großbritannien. In diesem Zusammenhang ist auch die Politik (Zeitpolitik) gefordert, bessere, günstigere Rahmenbedingungen für Mußezeiten zu schaffen.

Ein Blick nach vorne: Wie es aussieht, werden sich in nicht allzu ferner Zukunft die Roboter, die nachweislich weder ein Bewusstsein noch einen freien Willen haben, der Muße annehmen. Sie werden zum Trödeln, zum Nichtstun und eben auch zur Muße auffordern und den Burnout-gefährdeten zeigen, wie man das macht. Das ist zu dem Zeitpunkt keine Zukunftsmusik mehr, ab dem die Gremien der katholischen und der evangelischen Kirche entschieden haben, dass man Roboter taufen kann und eventuell auch soll. Der von ihnen dieser Tage zur Probe eingeführte digitale Klingelbeutel lässt einen positiven Entscheid erwarten.