Artikel von Kerstin Hau über Jonas Geissler und den Unterschied im Zeitgefühl zwischen Erwachsenen und Kindern.

Erschienen in “Starke Eltern – starke Kinder,” Mai 2021

 

Wir alle unterscheiden uns darin, wie wir Zeit wahrnehmen, erleben und gestalten. Besonders auffällig ist der Unterschied aber zwischen Kindern und Erwachsenen. Während für Kinder Zeit immer verfügbar scheint, arbeiten Erwachsene Terminpläne ab und hetzen oft der Uhr hinterher. Je älter wir werden, desto schneller scheint die Zeit zu verfliegen. Was beeinflusst unser Zeitempfinden? Wo finden wir Zeit? Was hat sie mit der Natur zu tun? Unsere Autorin Kerstin Hau spürt der großen Wandelbaren nach.

 

Zeitreise ins Jahr 2012. Es ist Februar. Mein Sohn ist dreieinhalb Jahre alt. Auf dem Arm meiner Mutter schaut er aus dem Fenster in den Garten. Sie erklärt ihm, wie die Natur sich verändert, wenn der Frühling kommt. „Die Blätter der Bäume wachsen und leuchten hellgrün. Überall wachsen Blumen und leuchten in bunten Farben.
Die Blüten der Obstbäume riechen gut. Das lockt die Bienen und Schmetterlinge an. Der Garten wird bald voller Leben sein.“ Mein Sohn zappelt, seine Augen leuchten, er strahlt und ruft: „Das ist schön, Oma! Das will ich jetzt schon! Sofort!“ Sie lacht und erklärt ihm, dass das so schnell nicht gehe. Sie müssten warten und geduldig sein. Der Frühling komme, aber er brauche noch Zeit. „Aber wie lange dauert das?“
Tja, …

TICK-TACK MACHT DIE UHR
„Die meisten Menschen halten Zeit für das, was die Uhr anzeigt“, sagt Jonas Geißler, Soziologe und Zeitberater in München. „Dabei vergessen viele, dass die Uhr eine Erfindung des Menschen ist. Sie ist ein Messgerät, ein Werkzeug. Mit der modernen Uhr wurde nicht nur die Dauer eines Ereignisses gemessen, sondern auch Arbeitszeit in Geld umgerechnet. Vor ihrer Erfindung maß sich das Leben am Rhythmus der Jahreszeiten, Sonnenauf- und -untergang. Die gestaltbare Lebenszeit richtete sich nach der Natur. Das ist heutzutage, zumindest in kapitalistischen Wirtschaftssystemen, anders. Die lebensorientierte Arbeitszeit verwandelte sich in arbeitsorientierte Lebenszeit.“ Die Uhr entkoppele den modernen Menschen von der Naturzeit. Dazu geselle sich die Annahme, dass es nur eine Zeit gebe. „Tatsächlich“, so Geißler, „ gibt es viel mehr Zeiten. Die Zeit, bis ein Kind sprechen lernt oder bis es laufen kann, die Zeit, in der aus einer Knospe eine Blüte wird und ein Apfel heranreift, die Zeit, in der aus Gartenabfall Humus wird. Jedes System und Individuum hat seine eigenen Zeitmuster und Zyklen. Alles unterliegt einem Rhythmus und dieser richtet sich nicht nach dem Takt der Uhr.“ Dadurch wird klar, dass es nicht die eine Zeit gibt, sondern eine „bunte Vielfalt real existierender Zeiten“.

LIEBE ZEIT, WAS BIST DU DENN?
Die Uhr zeigt so wenig die Zeit an, wie die Landkarte eine Landschaft. Während wir eine Landschaft bereisen und betrachten, ihre einzelnen Elemente sinnlich erfahren, gestaltet sich das Zeit-Erfahren weniger offensichtlich. Der Begriff Zeit scheint auf den ersten Blick eine leere Hülse zu sein. Vielleicht hilft aber das Bild der Landschaft:
Was macht eine Landschaft zur Landschaft? Grüne Hügel, blaue Berge, bunte Wiesen, nach Harz duftende Bäume, ein plätschernder Bach, singende Vögel, weiches Moos. Wer eine Landschaft beschreibt, fügt seine Sinneswahrnehmungen, seine Eindrücke zu einem Gesamtbild zusammen. Niemand käme auf die Idee, eine Landkarte mit einer lebenden Landschaft zu verwechseln. Auch Zeit ist keinesfalls ein Ziffernblatt mit Zeigern, angetrieben durch ein Räderwerk. Sondern
eine Anordnung von Momenten, Handlungen, Abläufen und Ereignissen, während derer wir atmen, riechen, schmecken, fühlen, hören, sehen, uns bewegen und uns im Raum wahrnehmen. Zeit besteht aus Zeiten. Sie ist komplex, wir fühlen und erleben sie immer und überall.

ZEIT EMPFINDEN, ZEIT ERLEBEN
„Von Geburt an wohnt jedem eine genetisch bedingte ,Uhr‘ inne. Das, was wir Zeitgefühl nennen, erlernen wir jedoch erst durch die Sozialisation“, erläutert Jonas Geißler. Dieses Zeitgefühl werde vom eigenen Biorhythmus beeinflusst, von unseren Grundbedürfnissen und unserem emotionalen Zustand. Sind wir müde oder ausgeruht? Hungrig oder satt? „Wenn wir gerade eine akute Stressreaktion erleben, herrscht ein anderes Zeitempfinden, als wenn wir entspannt in der Hängematte liegen.“ Außerdem, so Geißler, „basiert das Zeitempfinden auf all unseren Erfahrungen.“ Deshalb spiele unser Alter eine entscheidende Rolle, ebenso unsere Lebenserfahrungen. Und die Anzahl der Reize, die auf uns einwirkten. Jonas Geißlers Vater, der bekannte Zeitforscher Karlheinz Geißler, stellt in dem gemeinsamen Buch „Alles eine Frage der Zeit“ fest: Uhrzeit ist abstrakte Zahlenzeit. Naturzeit ist Erlebniszeit. Er schreibt, dass die evolutionär geprägten Körperzeiten unserem Zeitempfinden, unserem Zeiterleben und unserem Zeitgefühl ihre Färbung und ihre Gestalt geben. Neben Psychologie, kulturellen Werten und Mustern ist Zeit also auch Biologie. Der Mensch steht nicht außerhalb der Natur, er ist mit jeder Zelle ein Teil von ihr.

 

UHRZEIT-ELTERN UND ERLEBNISZEIT-KINDER
Kleine Kinder stecken noch nicht im Korsett der Uhrzeit, ganz anders als ihre „ver-uhrzeit-lichten“ Eltern. Als „Erlebniszeit-Typen“ haben sie noch eine andere Zeitwahrnehmung, was nicht selten eine Quelle für Konflikte ist. Umso wichtiger (und hilfreicher), wenn Eltern es schaffen, sich in die (Zeiten-)Welt der Kinder hineinzudenken − raus aus der Uhrzeit, rein in die angeborene Erlebniszeit. Für Erwachsene kann das sogar ein Schlüssel zum längst vergessenen Raum erfüllter Zeiten werden. „Geld- und Güterwohlstand erzeugen wir über das Tun und die Verrechnung von Zeit in Geld“, so Geißler. „Zeitwohlstand erlangen wir eher über das ,Lassen‘ als über das ,Machen‘; das ,Sein-lassen‘, das ,Sich-ein-lassen‘ und das ,Ver-lassen‘. Der Zustand, der sich dann im besten
Fall einstellt, ist Gelassenheit.

Auf dem Weg zu mehr Zeitwohlstand sollten wir pausenlose Aktivität und verdichtete Hetze sein lassen. Denn die Zeiten, die zählen, sind jene, die wir nicht zählen. Wir dürfen uns darauf verlassen, dass die wesentlichen Elemente des Lebens – dazu gehören die Liebe, das Vertrauen, die Zuversicht − entstehen, weil wir sie gerade
nicht absichtsvoll erzeugen wollen. Und wir dürfen unser schlechtes Gewissen und die gefühlte Ungenügsamkeit im Umgang mit Zeit weglassen. Der bewusst gelebte Augenblick, das Aufgehen im Jetzt, ist ein Schlüssel zum Zeitwohlstand.1

ES GIBT VIEL ZU TUN …?
Aufgehen im Jetzt – eine schöner Gedanke. Aber wie gelingt das in einem Alltag, der bei den meisten bestimmt wird von Kita-Öffnungs- und Arbeitszeiten, Schulbeginn und -ende, Fahrplänen, Terminen und Verpflichtungen? „Wenn wir unser Augenmerk stets auf den Berg an zu erledigenden Dingen richten, resultiert daraus oft ein Gefühl der Hetze, des Getriebenseins und der rastlosen Suche nach Dingen, die noch zu tun sind“, meint Jonas Geißler. „Diese Beschleunigung führt zu Entfremdung. Ungeduld und Gereiztheit entstehen.“ Darunter leide die innere Verbundenheit zu Menschen, Dingen und Ereignissen, z.B. wenn der Geburtstag des eigenen Kindes nur noch als abzuarbeitender To-Do-Punkt auf der nicht enden wollenden To-Do-Liste erlebt werde. Geißler meint, es sei hilfreich eine innere Haltung des In-der-Zeit-Seins einzunehmen, „sich in der Zeit erleben“ oder „die Zeit auf sich zukommen zu lassen, statt zu versuchen, die Zeit in den Griff zu bekommen, sie zu sparen und zu managen.“ Der Zeitberater nennt das die absichtsvolle Absichtslosigkeit oder die entspannte Neugier. Zudem rät er: „Schärfen Sie den Blick für das, was Sie sein lassen können.“ Der persönliche Weg zu mehr Gelassenheit und Geduld führe über die innere Haltung und das Weglassen, insbesondere das, was der Zeitvielfalt im Wege stehe. „Sich selbst und den Kindern Freiräume verschaffen und unverplante Zeit zulassen, darin liegt der Schlüssel“, so Geißler. Wir sollten uns weniger fragen: Was muss ich alles tun? Sondern eher: Was lass ich alles sein? „Mir gefällt der Satz: Es gibt viel zu tun, lassen wir es sein.“ Nur wenn wir die Anzahl der Tätigkeiten und Reize begrenzen, stellen sich Momente der Resonanz, Jetzt- Erfahrungen, Mußestunden und Flow-Erlebnisse ein. Kurz: Wir erleben eine gute, erfüllte Zeit, entspannen uns. Das färbt auf unsere Kinder ab.

GELASSENHEIT LERNEN
Gleichzeitig sollten wir uns zurücknehmen und unsere Kinder nicht ständig antreiben, verplanen oder Druck auf sie ausüben. Hier hilft es, Kontrolle, Ansprüche und Erwartungen runterzuschrauben. „Vom agilen Manifest der Software-Entwicklung wissen wir: Die Planung ist alles, der Plan ist nichts. Das gilt auch fürs Familienleben“, sagt der Experte. Es sei ein Unterschied, ob ich rigide an etwas festhalte oder flexibel auf Änderungen reagiere. „Wir machen einen Plan, nehmen uns etwas vor und schauen dann in der Situation, was es tatsächlich braucht und ob das noch stimmig ist.“ Wer fähig sei, sich darauf einzulassen, werde automatisch gelassener.

Trotzdem ist es im Alltag oft schwer, den Kopf freizubekommen. „Wenn sich die schwirrenden Gedanken der Zukunftsfixierung nicht leicht abschütteln lassen, hilft die Be-Sinnung, die Konzentration auf die momentanen Sinneseindrücke“, so Geißler. „Wenn ich müde von der Arbeit nach Hause komme und merke, dass noch zu viele
Dinge in meinem Kopf schwirren, aber meine Kinder mich schon freudig begrüßen, versuche ich mich zu besinnen. Ganz bewusst stelle ich mir die Frage: Was rieche ich gerade? Was höre ich? Was sehe ich, wenn ich genau hinschaue? Was fühle ich gerade? Da kommt mein Kind. Es macht mir ein Angebot, stellt mir eine Frage, es zeigt mir etwas. Wenn ich mich auf meine eigene Sinneswahrnehmung fokussiere, dann bin ich immer im Jetzt, weil Sinneswahrnehmung immer im Moment stattfindet. Das kann das Schwirren im Kopf reduzieren. Zugleich darf man anerkennen, dass dies nicht immer gelingt – auch nicht einem Zeitforscher.“

GELEBTE ZEITVIELFALT
„Familiensysteme leben von gelebter Zeitvielfalt. Trubel, Ruhe, Hektik, Langeweile und so weiter. Das ist ein Teil der Zeitvielfalt“, so Geißler. „Anfänge, Abschlüsse, Übergänge und Rituale gehören dazu. Ebenso Wartezeiten und Geduld.“ Ein entspanntes Zusammenleben beginnt mit der eigenen inneren Haltung und dem Wissen
um Zeitvielfalt. Letztendlich stärkt das unsere Widerstandskraft. Dafür lohnt es sich, die Uhr so oft als möglich aus den Augen zu verlieren und mal wieder zu trödeln, zu schlendern, Löcher in die Luft zu gucken oder gemeinsam dem Frühling beim Erwachen zuzusehen. Wie das geht, zeigen uns unsere Kinder. ■

1 oekom Verlag, Interview, Jonas Geißler, https://www.oekom.de/
beitrag/es-wird-zeit-3-fragen-an-harald-lesch-karlheinz-geissler-undjonas-
geissler-201, abger. 23.03.2021

 

DIE
ENTWICKLUNG
VON
ZEITBEGRIFFEN

Zeitbegriffe entwickeln sich mit zunehmender Reife
des Kindes. Ihre innere Uhr wird durch wiederkehrende
Abläufe geprägt1. Ab etwa 6 Monaten erfassen
Babys zeitliche Zusammenhänge durch sich wiederholende
Abfolgen. Mit einem Jahr können sich Kleinkinder
die Reihenfolge einzelner Handlungen merken,
mit zwei Jahren haben sie eine vage Vorstellung von
Davor und Danach. Sie bekommen ein erstes Gefühl,
dass Zeit etwas ausgedehnter ist als Hier und Jetzt.
Zeitbegriffe wie „Morgen“ oder „Gestern“ kennen sie
jedoch noch nicht. Ihr Tag teilt sich in Schlafens-, Essens-
und Spielphasen ein. Diese Tagesstruktur lässt
sie wissen, ob es morgens, mittags oder abends ist.
Kinder im Alter von etwa drei Jahren können ihre
Bedürfnisse kurzzeitig zurückstellen. Sie lernen zu
warten, auch wenn das meist nur mit Ablenkung gelingt2.
Vier- bis Fünfjährige kennen bereits Zeiträume.
Sie verstehen, dass etwas beginnt, eine Weile dauert
und dann endet, beispielsweise ein Spiel oder eine
Gute-Nacht-Geschichte. Ungefähr mit sechs Jahren
reift das Verständnis, dass Zeit weitergeht, auch wenn
sich für das Kind nichts Besonderes ereignet3. Mit dem
Schuleintritt beginnt die konkrete Uhrzeiterziehung,
die gegen Ende der Grundschulzeit abgeschlossen ist.
Neun- bis Zehnjährige verstehen die Zeitbegriffe, die
Erwachsene benutzen.

1 Fink, Michael, Im Hier und Jetzt. Das Zeitgefühl junger Kinder,
Kleinstkinder 5/2017, Herder Verlag, www.herder.de/kk/
zeitschrift/archiv/2017/5-2017/im-hier-und-jetzt-das-zeitgefuehljunger-
kinder, abger. 26.03.2021
2 Karr-Meng, Alexandra, Kinder achtsam erziehen, S. 156-158,
humboldt 2018, ISBN: 978-3-86910-639-7
3 Reiss, Christina, Wie Kinder ein Gefühl für die Zeit entwickeln,
www.wireltern.ch/artikel/wie-kinder-ein-gefuehl-fuer-die-zeitentwickeln-
1016, abger. 26.03.2021

 

MEHR
GEDULD …

„Wenn man auf Sachen wartet und sie lange nicht
kommen, dann ist man geduldig“, sagt der siebenjährige
Robin. „Geduld hat etwas mit Warten zu tun.
Manchmal wartet man lange, manchmal kurz. Wenn
ich z.B. auf ein Paket warte und es nicht kommt, dann
denke ich, ich lass dem Paket einfach noch ein bisschen
Zeit.“
Geduld ist die Fähigkeit, eine innere Spannung anzunehmen,
ohne sich dabei zu ärgern oder zu verspannen.
Diese innere Spannung entsteht meistens, wenn
sich unsere Wünsche nicht erfüllen und diese mit der
Realität auseinanderklaffen. Zusätzlich kommt hinzu,
dass diese Spannung dann noch durch einen zeitlichen
Faktor bestimmt wird1.
Oft fehlt es uns im Alltag an Geduld, wir reagieren
schnell genervt bis gereizt, wenn „die Dinge“ nicht so
laufen, wie wir sie geplant haben. Aber wie schafft
man es, geduldiger zu werden? Ein erster Schritt könnte
darin bestehen, den eigenen Umgang mit Wartezeiten
zu hinterfragen. Wie geduldig bin ich mit mir und
anderen? Kann ich es kaum ertragen, wenn ich länger
als fünf Minuten warten muss? Schaue ich dauernd
auf die Uhr, wenn ich an der Haltestelle stehe oder im
Wartezimmer sitze? Suche ich im Einkaufsmarkt stets
die kürzeste Warteschlange? Geht mein Puls nach
oben, gestikuliere ich und schimpfe laut, wenn ich
im Stau stehe? Oder überstehe ich Wartezeiten entspannt?
Wandle ich die Wartezeit gar in Ressourcenzeit
um, hänge meinen Gedanken nach und sammle
Kraft? Was bedeutet es eigentlich für mich, gelassen
und geduldig zu sein? Wie erleben mich meine Kinder?

1 Was ist Geduld? https://psychologische-praxis-baklayan.de/
geduld, abgr. 26.03.2021

 

Kerstin Hau, examinierte Physiotherapeutin, studierte
Media-System-Design und Fachjournalismus. Bekam einen
Sohn, ist Alumna der Akademie für Kindermedien,
Absolventin des STUBE-Fernkurs
Kinder- und Jugendliteratur. Als freie
Autorin schreibt sie für Zeitschriften und
Buchverlage. www.kerstin-hau.de