Interview mit Karlheinz Geißler in Der Standard 13.10.2017

 

STANDARD: Welche Rolle spielt denn Zeit für ein erfülltes Leben?

Geißler: Ohne Zeit geht gar nichts. Zeit und Leben lässt sich nicht auseinanderdividieren. Wer sagt, er hätte keine Zeit, ist tot oder lügt.

STANDARD: Nun sagt in Umfragen die Mehrheit, sie hätte “zu wenig Zeit”. Verwendet wird die Zeit hier synonym zu Freizeit.

Geißler: Die Frage ist nicht, ob man zu viel oder zu wenig Zeit hat, sondern eher: Wer entscheidet über meine Zeit? Ehemals konnten nur Gott und mächtige Menschen darüber bestimmen. Seit zirka 600 Jahren, als die Uhr erfunden wurde, haben wir den Anspruch, selbst zu entscheiden. Seitdem können wir quasi selbst an den Zeigern drehen.

STANDARD: Viele füllen ihren Tag bis zur letzten Minute mit Aufgaben. Braucht der Mensch den Stress?

Geißler: Tatsächlich bestimmen nicht nur wir, sondern auch die Ökonomie über unsere freie Zeit. Die Zeit in Geld verrechnende Wirtschaft versucht sie für sich nutzbar zu machen. Sie setzt uns unter Zeitdruck, um wachsen zu können. Sogar im Urlaub bekommen wir ein Stressprogramm verschrieben, um die Zeit möglichst profitabel verbringen zu können. Wir könnten uns aber auch anders verhalten und Konsumverzicht üben, zum Beispiel faulenzen. Das tun auch einige, aber nicht die Mehrheit.

STANDARD: Weil man sich damit auch ins gesellschaftliche Aus stellt?

Geißler: Natürlich. Man verpasst dadurch den Anschluss, erlebt nicht das, was andere erleben, hat anschließend wenig zu erzählen. Macht man bei diesen Konsumdiktaten nicht mit, hat man viele Nachteile, ist aber gut erholt.

STANDARD: Für ein ständiges Mehr sorgen auch digitale Technologien wie das Smartphone.

Geißler: Diese Technologien sind die neuen Triebkräfte des Wachstums. Im 19. und 20. Jahrhundert war die Schnelligkeit die Produktivkraft Nummer eins. Als wir dann bei Lichtgeschwindigkeit angekommen waren, war die Beschleunigung per Schnelligkeit am Ende. Um weiter beschleunigen zu können, ist die Wirtschaft auf Zeitverdichtung umgestiegen. Unsere Geräte – Computer und Smartphones – werden multitaskingfähig. Die Verdichtung belastet und erschöpft die Menschen.

STANDARD: Sie sind Mitbegründer der Gesellschaft für Zeitpolitik, die für einen “bewussteren Umgang” mit Zeit plädiert. Was ist konkret gemeint?

Geißler: “Bewusst” bedeutet die Fähigkeit, die diversen Zeitansprüche und Zeitfreiheiten zu überblicken und zu koordinieren. Jeden Tag ist man mit verschiedenen Zeitansprüchen konfrontiert: Der Arbeitgeber hat Ansprüche, die Familie auch, und selbst hat man auch noch welche. Einige dieser Ansprüche kann man beeinflussen. Andere nicht. Dass man zum Beispiel zwei Kinder hat, lässt sich kurzfristig nicht ändern. Auch damit, dass wir in einem kapitalistischen System, das Zeit in Geld verrechnet, leben, muss man sich abfinden.

STANDARD: Und was lässt sich beeinflussen?

Geißler: Wie Sie Zeit und Geld gewichten, ob Sie aller Zeit oder nur der Arbeitszeit einen Geldwert zugestehen. Ebenso können Sie die Strukturierung Ihres Tagesablaufs beeinflussen, vor allem am Wochenende. Über die Zeiten des Urlaubs können Sie entscheiden, welche Geräte Sie benutzen und auf was Sie verzichten. Die Werbung wird Sie zwar immer wieder zum Zeit-ist-Geld-Muster verführen. Trotzdem: Sie müssen nicht.

STANDARD: Stichwort Zeit verbringen: Müssen wir erst wieder lernen, die Zeit nicht einfach nur zu ertragen, sondern wieder mehr zu erleben?

Geißler: Vor allem müssen wir wieder lernen, diejenigen Zeiten zu leben, die uns guttun, die uns zufrieden und zeitsatt machen. Nur so vermeiden wir die Gefahr, uns zeitlich zu verlieren.

STANDARD: Zeitlich verlieren?

Geißler: Man weiß nicht mehr, welche Zeiten einem guttun, was die eigene Zeitnatur von einem verlangt. Beispielsweise dass der Mensch beim Wechsel von einer Aktivität zur anderen Übergänge braucht. Das kann der als Übergang gestaltete Weg von der Wohnung ins Büro sein, das kann die Kaffeepause zwischen der Arbeit am Computer und dem Meeting sein. Vorbilder liefert die Natur. Ein Wetterwechsel findet selten plötzlich statt, er kündigt sich an. Das Gewitter nähert sich. Die Natur arbeitet nach dem Prinzip “Man kann sich darauf einstellen”, das Smartphone nicht. Die Menschen müssten ihre eigene Zeitnatur besser spüren lernen. Was tut einem wann gut? Das ist wichtig zu wissen. In der Schule lernen Kinder, wie die Uhr funktioniert, nicht lernen sie, wie ihre Zeitnatur beschaffen ist.

STANDARD: Wie lässt sich das trainieren? Durch Wandern, Meditation?

Geißler: Zuerst muss man begreifen und akzeptieren, dass wir die Zeit nicht haben, sondern sind. Konkret: Alles, was wir der Zeit antun, tun wir uns selbst an. Ja und dann brauchen wir mehr Erfahrungen träger Produktivität. Dazu gehören Ruhe, Stille, Pausen, Wiederholungen. Nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich. Wir müssten alle etwas langsamer machen, zumindest phasenweise. Schnell und langsam, beides ist wichtig, warten und sich über das Warten aufregen. Wandern oder Meditation sind letztendlich nur Gegentrends. Sie halten den von der Wirtschaft forcierten Trend zur Beschleunigung nicht auf.

STANDARD: Sehr pessimistisch.

Geißler: Warum? Wir haben doch die Möglichkeit zu sagen: Jetzt reicht’s. Je mehr Zeit Sie in Geld verrechnen, desto weiter weg sind Sie von Ihrer eigenen Zeitnatur. Das heißt, Sie müssen irgendwann umschalten: um sich selbst kümmern und nicht um das neue Gerät, das Apple auf den Markt bringt. Sie können entscheiden, ob Sie sich mit Ihrem Smartphone beschäftigen oder mit sich selbst. Letzteres ist besser. Besser sind auch mehr Zeiten des Nichtstuns.

STANDARD: In einer Studie gibt ein großer Anteil der Befragten an, dass sie sich lieber einen leichten Elektroschock verabreichen würden, als 15 Minuten lang still zu sitzen.

Geißler: Das kann ich mir gut vorstellen, da wir in einer Aktivitätsgesellschaft leben. Das hat ja auch schon der Philosoph Blaise Pascal geschrieben: Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.

STANDARD: Ein Unglück ist für Sie die Uhr. Haben Sie auch schon während Ihrer aktiven Berufszeit keine Uhr getragen?

Geißler: Nein. Ich bin seit langer Zeit der Meinung, dass man Uhren nicht tragen, sondern nur ertragen muss. Der Uhrzeitmensch kennt keine lebendigen, bunten und abwechslungsreichen Zeiten, er kennt nur farblose und zählbare Zeiteinheiten. Aber die Zeiten, die im Leben zählen, sind die Zeiten, die nicht gezählt werden.

STANDARD: Ich trage ebenfalls keine Uhr, lese die Zeit aber auf meinem Smartphone ab. Das tun Sie nicht – wie lässt sich ein Tag solcherart organisieren?

Geißler: Zugegeben, ich hatte an der Uni eine Sekretärin, die mir gesagt hat, wann es Zeit für die Vorlesung ist.

STANDARD: Das ist Schummeln.

Geißler: Nein, meine Zeitorientierung geschah im Kontakt mit anderen Menschen und nicht durch den einsamen Blick auf die Uhr – ohne Uhr mehr Kommunikation. Sie kommunizieren mit Ihrem Handy, ich mit der Sekretärin, das ist mir lieber, es ist sozialer und menschlicher.

STANDARD: Sie haben angeblich nie mehr als einen Termin pro Tag ausgemacht. Auch das stelle ich mir schwierig vor.

Geißler: Wenn Ihnen jemand Termine aufzwingt, ist das in der Tat schwierig. Wenn Sie selbst über Termine entscheiden können, überhaupt nicht. Ich bin der Meinung, wir sollten das geregelte, das vertaktete, zerhackte und durchterminierte Deadline-Leben den Zeitmanagern überlassen. Will jemand ein Interview führen und ich habe an diesem Tag bereits eines vereinbart, sage ich: Geht nicht. Damit verzichte ich natürlich auch auf so einiges, aber das kann ich verkraften.

STANDARD: Weil Sie Verzicht ansprechen: Haben wir nicht zu wenig Zeit, sondern nur zu hohe Ansprüche?

Geißler: Dieses permanente Tun brauchen viele zur Selbstbestätigung. Man kann sich aber auch über das Lassen selbst bestätigen. Das ist viel stressfreier. Jede Aktivität speist sich aus Passivität. Ist man ununterbrochen aktiv, merkt man die Aktivität nicht – so geht es vielen Managern. Sie spüren ihre Belastung nicht mehr und kippen irgendwann um. Ihnen fehlt die Passivität, die sie in der Burnout-Klinik dann nachzuholen gezwungen werden.

STANDARD: Was ist diese Passivität, von der Sie sprechen?

Geißler: Das ist der Rhythmus von Anspannung und Entspannung. Zum Beispiel das von Wilhelm Busch so herrlich karikierte “Bad am Samstagabend”. Für mich ist das mein zehnminütiger Mittagsschlaf. Seit Jahrzehnten mache ich ihn. Auch im Büro. Den Kopf auf den Schreibtisch gelegt, wird zehn Minuten gedöst. Das tut mir wahnsinnig gut und macht mich wieder aktiv.

STANDARD: In den meisten Unternehmen würden Sie dafür zumindest komisch angesehen werden.

Geißler: Das ist schade und auch ein wenig dumm. Vor einem halben Jahrhundert gab es noch eine Siestakultur! Sie war in der ganzen Welt verbreitet. Inzwischen feiern sich Manager und berichten stolz, nur wenig zu schlafen. Wenn die deutsche Bundeskanzlerin sagen würde, dass sie nur drei Stunden schläft, bekäme ich Angst vor der Politik, die dabei herauskommt. Es ist chronobiologisch nachgewiesen, dass der Mensch sieben bis acht Stunden Schlaf braucht, um seine Kräfte zu optimieren.

STANDARD: Was außer Schlaf fällt noch unter passive Zeit?

Geißler: Rituale und Routinen. Sie nehmen einem ab, ständig über Zeit entscheiden zu müssen. Sie entlasten. Ich stehe beispielsweise um acht Uhr auf, dann frühstücke ich, lese Zeitung, mache mir einen Espresso. Um zwölf oder halb eins esse ich zu Mittag, und nach meinem kurzen Mittagsschlaf arbeite ich wieder. Wenn ich ein Interview vereinbare, dann ohne Störung meiner Rituale. Dann mache ich mit Ihnen genau aus, wann Sie anrufen.

STANDARD: Sie meinten lediglich, ich solle in dieser Woche “irgendwann am Nachmittag” anrufen. Da sind Sie wiederum flexibel?

Geißler: Ja. Ich organisiere meinen Tag wie einen Emmentaler Käse: mit festen Strukturen, das sind die Rituale , und mit flexiblen Zeiten – mit “Löchern” – dazwischen, in denen ich dann unter anderem Interviews gebe.

STANDARD: Wie können Unternehmen ihre Mitarbeiter unterstützen, mehr auf ihre natürliche Zeit zu achten?

Geißler: Zunächst sollten sie ihnen flexibles Arbeiten ermöglichen, Gleitzeit und flexible Pausenregelung. So erhöhen sich die Spielräume für eine rhythmische Arbeitszeitgestaltung, von der ich gesprochen habe. Durch Bildungsmaßnahmen kann dafür gesorgt werden, dass Mitarbeiter ihre eigenen Zeitrhythmen kennen und organisieren lernen. Wichtig sind auch regelmäßige und spontane Pausen statt Raucher/Nichtraucher-Pausen.

STANDARD: “Wir müssen zeitweise Rast einlegen und warten, bis uns unsere Seelen wieder eingeholt haben”, lautet ein indianisches Sprichwort.

Geißler: Pausen sorgen für Abstand. Sie machen die Bretterwand zum Lattenzaun mit Aus- und Durchblick. Aber nicht nur das: Für alle, die das Leben nicht leben, um es hinter sich zu bringen, sind Pausen Leuchttürme ihres Daseins. (Lisa Breit, 13.10.2017)

 

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