“Machen Sie es wie Karl Valentin”: Das rät ein Experte aus München zur Zeitumstellung

In der Nacht auf Sonntag wird eine Stunde nach vorne gestellt. Warum die Zeitumstellung ein guter Anlass ist, über seinen Umgang mit Zeit nachzudenken – das erklärt der Münchner Zeitberater Jonas Geißler.
| Rosemarie Vielreicher 
Link zum Interview auf der Website der Abendzeitung
München – Die Deutschen sind bekanntlich keine großen Fans davon, zweimal im Jahr an den Uhren zu drehen. In der Nacht auf Sonntag ist es wieder soweit: Sommerzeit – und damit springt der Zeiger um 2 Uhr nachts auf 3 Uhr vor. Sprich: Eine Stunde fehlt uns am Wochenende. Einer, der sich nicht nur zweimal im Jahr viel mit dem Thema Zeit und dem Umgang damit beschäftigt, ist der Münchner Jonas Geißler. Die AZ hat mit dem Zeitberater gesprochen.AZ: Herr Geißler, Ihr Vater, der Zeitforscher Karlheinz Geißler, lebte jahrzehntelang bewusst ohne Uhr – wie handhaben Sie das?
JONAS GEIßLER: Ich trage ebenfalls keine Uhr am Körper. Und das tue ich auch bewusst, da ich versuche, die Uhrzeit nicht als meinen Haupt-Zeitgeber zu nutzen. Sie ist für mich nur einer von vielen.Welche gibt es noch?
Zusätzlich versuche ich, mich an den Rhythmen meines eigenen Körpers und den vielen sozialen Rhythmen wie dem Schulbeginn oder der Bringzeit der Kita zu orientieren. Das klappt nicht immer, aber ich bin eh der Meinung, dass ein Perfektionsanspruch an den Umgang mit Zeit eher hinderlich ist. Oft ist er eher die Ursache für Erfahrungen des Scheiterns, weil wir viele Dinge im Umgang mit Zeit nicht kontrollieren können.

 

Der Zeitberater Jonas Geißler ist dafür, die Zeitumstellung beizubehalten

 

Kommen Sie auch manchmal zu spät?
Selten. Ich bin ein pünktlicher Mensch, ohne ständig auf die Uhr zu schauen. Wenn ich einen Zug erwischen will, bin ich meistens etwas zu früh da. Ich mag es nicht, mich zu hetzen.

An diesem Wochenende wird wieder auf die Sommerzeit umgestellt, also eine Stunde weniger Schlaf. Warum ist das Thema Uhrumstellung und deren Abschaffung besonders für die Deutschen so ein Reizthema?
Das ist eine interessante Frage, über die ich mir schon viele Gedanken gemacht habe. Bisher habe ich nur Hypothesen: Vielleicht ist dieser herrschaftliche Akt, dem man sich ja nicht entziehen kann, für viele Deutsche eine Zumutung. Es wird an der Uhr gedreht, wir müssen unser Leben daran anpassen und man kann sich nicht dagegen entscheiden. Über Uhrzeit wird das Verhalten von Menschen gesteuert, geordnet und synchronisiert. Das ist in vielen Situationen sehr praktisch und in manchen eben auch eine Zumutung – zum Beispiel, wenn wir unseren Rhythmus am Takt einer Maschine ausrichten müssen. Vor allem wenn mir die Stunde im Frühjahr bei der Umstellung auf die Sommerzeit “geklaut” wird und ich in der Regel dadurch weniger Schlaf abbekomme. Aber es kommt auch darauf an, wann man die Menschen fragt. In Umfragen kam heraus, dass sie die längere Helligkeit am Abend bei der Umstellung auf Sommerzeit durchaus begrüßten.

Wie stehen Sie dazu – abschaffen oder belassen?
Ich persönlich bin dafür, sie beizubehalten. Als Zeitexperte ist es zweimal im Jahr eine Gelegenheit, sich daran zu erinnern, dass wir nur die Uhr und nicht die Zeit umstellen und, dass wir das eine allzu oft mit dem anderen verwechseln. Überhaupt ist es ein Anlass, sich über die eigene Zeit Gedanken zu machen, sich zu fragen, was für mich gefüllte und was erfüllte Zeit ist. Letztere ist meistens jenseits der Uhrzeit zu finden. Es ist erstaunlich, wie wenig bewusst wir uns die eigene Zeit machen. Dabei ist sie die Grundlage für gelingendes Leben. Und aus der Forschung wissen wir, dass im Leben vor allem die Zeiten zählen, die wir nicht zählen. Also machen Sie es wie Karl Valentin: Schauen Sie morgens nur einmal auf die Uhr und merken Sie sich die Uhrzeit für den ganzen Tag.

 

Sie bieten Zeitberatung an – wie muss man sich das vorstellen?
Ich biete Beratung zu Veränderungen an und die haben immer sehr viel mit Zeit zu tun. Egal ob ich gesünder leben, innovativer werden oder wirksamer zusammen arbeiten möchte, es ist stets eine Frage der Zeit, ob dies gelingt oder nicht. Wir alle kennen die vielen Vorhaben, die sich nicht verzeitlichen, also es nicht vom Wunsch in die Wirklichkeit schaffen. Wir können nicht nicht mit Zeit umgehen. Von daher lohnt es sich, von der zeitlichen Seite her Veränderungen zu gestalten. Am Ende steht häufig ein bewussterer Umgang mit Zeit und deutlich mehr Klarheit, Gelassenheit und Ausgeglichenheit.

Zeitberater aus München: “Wir müssen immer besser im Verpassen, Auswählen und Verzichten werden”

 

Wie kann man seinen Umgang mit Zeit, etwa wenn man sich ständig gehetzt fühlt, verbessern?
Hierbei gibt es oft zwei Einflussmöglichkeiten: Erwartungen und das Sein-Lassen. Der Eindruck der Zeitknappheit entsteht oft durch die Überforderung durch Erwartungen. Also welche Erwartungen an meine Zeit habe ich selbst? Und was denke ich, was andere von mir erwarten?

Haben Sie ein Beispiel?
Etwa Reaktionszeiten auf Benachrichtigungen oder Erwartungen an Erreichbarkeit. Diese Erwartungen können geklärt werden. Einmal für mich selbst und zum anderen nach außen hin – in Richtung meiner Mitmenschen. Wenn ich natürlich die Erwartung habe, dass ich zwei Leben in einem lebe, dann werde ich vermutlich in Hektik geraten. Das heißt, mit den Erwartungen ist auch immer verbunden, was ich überhaupt schaffen kann und will und was nicht. Damit wären wir bei dem Thema “Sein-Lassen”. Der Berg an zu erledigenden Dingen, die Möglichkeiten, die wir haben, um unsere Zeit zu verbringen, ist stets größer als die zur Verfügung stehende Zeit. Das wird uns in einer Multioptionsgesellschaft immer bewusster. Allein unser Smartphone hat viel mehr Möglichkeiten, unsere Zeit zu füllen, als wir Lebenszeit zur Verfügung haben.

Das bedeutet?
Wir müssen immer besser im Verpassen, Auswählen und Verzichten werden. Das sind Kompetenzen, die uns nirgendwo gelehrt werden, die aber für einen zufriedenstellenden Umgang mit Zeit essenziell sind. Es geht darum, die eigenen Limitierungen zu begrüßen und nicht zu überwinden. Es ist eine völlige Illusion, dass wir den Stapel irgendwann abgearbeitet haben. Dieses Denken führt dazu, dass wir den gegenwärtigen Augenblick allzu oft für eine Zukunft opfern, die noch nicht eingetreten ist. Ganz nach dem Motto: “Später dann, wenn ich alles erledigt habe, nehme ich mir Zeit für dies oder jenes.” Dieser zukünftige Moment ist dann aber wieder gefüllt. Und dabei verpassen wir das Wichtigste, das wir im Leben haben: den Augenblick, das Jetzt. Genau genommen besteht unser Leben nur aus Jetzt. Verpassen Sie diesen Augenblick nicht. Auch den jetzigen! Es gibt aber noch einen wichtigen Aspekt, den man nicht durch einfache Hinweise ändern kann.

Welchen?
Wir leben in sehr ungerechten Zeitstrukturen. Die Möglichkeit, frei über Zeit zu verfügen, ist sehr ungleich verteilt. Zum Beispiel auch zwischen den Geschlechtern. Wir leisten uns viele prekäre Arbeitsverhältnisse, die nur wenig Zeitwohlstand zulassen. Hier ist nicht mehr das Individuum gefragt, sondern die Politik, die Gesetze und Strukturen für mehr Zeitgerechtigkeit schafft.

Haben Sie Tipps für die Umstellung am Sonntag, damit man die “verlorene” Stunde gut wegsteckt?
Zunächst einmal: sich nicht allzu stark darüber zu grämen. Die Gelegenheit nutzen, über seine eigene Zeit nachzudenken und einen wertschätzenden Blick darauf zu werfen, was im Umgang mit der eigenen Zeit schon gut läuft. Oft ist unser Blick auf die Zeit sehr vom Mangel geprägt: Zeit ist nie genug, ich muss sie sparen, in den Griff bekommen und schauen, dass ich sie nicht verliere. Das klingt oft eher nach einem aggressiven Verhältnis zur Zeit.

Wie lautet die Alternative?
Wie wäre es mit: Die Zeit ist meine treueste Freundin, von der Geburt bis zum Tod ist sie stets an meiner Seite. Sie entsteht jeden Tag neu. Vielleicht verändert diese freundschaftliche Haltung zur Zeit mein Verhältnis zu ihr und damit mein Verhältnis zum Leben.

Haben Sie noch einen letzten konkreten Tipp zum Start in die Sommerzeit?
Vom Biorhythmus her wäre es gut, eine Stunde eher zu Bett zu gehen, damit man genügend Schlaf bekommt. Oder man teilt es auf zweimal eine halbe Stunde auf. Durch den Ostermontag müssen ja viele von uns am Montag nicht arbeiten. Das macht den Übergang zumindest etwas einfacher.