Keine Zeit vor der Urlaubszeit – Zeitforscher Karlheinz Geißler über Alltags-Hektik, Zeitgefühl und unsere Not mit der Uhr
Sonntagsbaltt, 10.07.2018
Von Gabriele Ingenthron
Nie hatten Menschen so viel Zeit – nie fühlten sie sich so gehetzt. Und die Zeit vor dem Urlaub erleben viele als besonders stressig, weil vorher noch so viel erledigt werden muss. Woher kommt das? Der Münchner Zeitforscher Karlheinz Geißler lebt seit 30 Jahren ohne Uhr.
Herr Geißler, was haben Sie gegen Uhren?
Karlheinz Geißler: Ich habe nichts gegen Uhren, ich muss nur keine tragen. Uhren kann man tragen und ertragen. Ich kann sie nicht ertragen.
Wie kommen Sie ohne Uhr im Alltag zurecht?
Geißler: Die Uhrzeit ist eine fremdbestimmte Zeit. Ich merke selbst, was ich brauche und nötig habe. Das kann ich besonders gut, seit ich pensioniert bin. Das ist natürlich im Arbeitsleben schwieriger.
Gab es einmal eine peinliche Situation, weil Sie zu spät gekommen sind?
Geißler: Zuspätkommen ist nicht peinlich. Außerdem komme ich nie zu spät, weil ich nie Zeitpunkt-Planungen, sondern nur Zeitraum-Planungen mache.
Die Uhr dient der Absprache zwischen Menschen. Wer sich nicht daran hält, ist ein Zeit-Dieb.
Geißler: In Situationen, in denen ich gemeinsam etwas machen muss, brauche ich die Uhr auch. Die Uhr ist keine blödsinnige Erfindung. Nur: Wir haben es übertrieben mit den Uhren. Auch wenn wir nichts koordinieren, schauen wir andauernd auf die Uhr. Das ist völlig überflüssig.
Viele Menschen haben den Eindruck, dass alles immer schneller geht. Woher kommt das?
Geißler: Die Zeit wird nicht beschleunigt, sondern die Menschen sind beschleunigt. Die Zeit lässt sich nicht beschleunigen, sondern wir tun das mit uns selbst und schieben es der Zeit in die Schuhe. In New York zum Beispiel werden die Leute immer schneller, weil da mehr Geld verdient wird. Das heißt, die Verrechnung von Zeit in Geld macht die Zeit schnell. Je schneller die Menschen sind, desto mehr Geld können sie verdienen. Wenn sie mehr Geld verdienen wollen, müssen sie schneller werden.
Demnach war die Erfindung der Uhr eine Sache des Kapitalismus?
Geißler: Ohne Uhr kein Kapitalismus. Bevor der Kapitalismus Fahrt aufgenommen hat, bis zum Ende des Mittelalters, war die Zeit das, was die Natur an Signalen angeboten hat, also das Werden und Vergehen in der Natur. Daran hat sich der Mensch orientiert, er war Teil der Natur. Erst als man die abstrakte Zeit erfunden hat, die Natur aus der Zeit gelöst hat, konnte man sie mit Neuem füllen – mit Geld. Seitdem kann man Zeit mit Geld verrechnen.
“Wir haben es übertrieben mit den Uhren. Auch wenn wir nichts koordinieren, schauen wir andauernd auf die Uhr. Das ist völlig überflüssig.”