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Es war sicherlich auch sein Verdienst, dass viele Vertreterinnen und Vertreter der Zeitmanagementzunft schon vor Jahren ihr Bild von Zeitmanagement von den bloßen Techniken hin zu mehr Achtsamkeit für das Erleben und Leben verschiedener Zeitformen weiterentwickelt haben.

Für Professor Karlheinz A. Geißler, viele Jahrzehnte lang sicherlich einer der kreativsten und anregendsten Zeitforscher im deutschsprachigen Raum, war Zeitmanagement reiner Unsinn. Warum? Zeitmanagement versucht, aus fleißig Zeit sparenden Menschen noch fleißigere und noch effizientere Zeitsparer zu machen. Das Ergebnis: Burnout für die Sieger, Depressionen für die Looser. Es ist nicht die Zeit, die beim Zeitmanagement in den Griff genommen wird: Man ist es selbst. Die unzähligen Techniken, Ratschläge und Tipps führen die sich Hilfe und Entlastung Erhoffenden meist noch tiefer in jenen Strudel der Zeitnöte und des Gehetztseins, aus dem sie entkommen wollten. So finden sich die Absolventen entsprechender Seminare unversehens im Terminkäfig eines verplanten und durchkalkulierten Arbeitens und Lebens wieder. Geißler: „Zeitmanager leben gegen die Zeit, sie lieben die Zeit nicht, sie hassen sie.“ Und die vielen Zeitmanagementtechniken, früher auf Papier, jetzt auf dem Smartphone? Geißler in einem unserer letzten Dispute: „Diese Techniken kannst du auch einem Schimpansen beibringen. Und sie mögen, und auch da nicht immer, in der Ökonomie klappen. Für die meisten Menschen ist diese Art Zeitmanagement jedoch schleichend zur Lebenshaltung geworden. Sie bestimmt die Freizeit, das Familienleben, die Partnerschaft, den Umgang mit den Kindern. Da wird mit Excel minutiös schon einmal die eigene Hochzeit geplant, ohne zu wissen, wen man denn überhaupt heiraten möchte.“

Also Entschleunigung? Auf keinen Fall! Geißler plädierte für die Entwicklung einer „Zeitkompetenz“, die er bei den meisten Menschen schmerzlich vermisst hatte. Er plädierte für eine lebendige und bunte Vielfalt von Zeiterfahrungen, für mehr Zeitsouveränität und Zeitzufriedenheit. Dazu gehört die Schnelligkeit genauso wie die Langsamkeit, die Hektik wie das Trödeln, das unermüdliche Ranklotzen wie die Pausen und die Zeiten der Erholung oder der, von ihm so geschätzten Langeweile.

Es war sicherlich auch sein Verdienst, dass viele Vertreterinnen und Vertreter der Zeitmanagementzunft schon vor Jahren ihr Bild von Zeitmanagement von den bloßen Techniken hin zu mehr Achtsamkeit für das Erleben und Leben verschiedener Zeitformen weiterentwickelt haben.

Karlheinz Geißler hat sich natürlich nicht nur mit Zeitmanagement beschäftigt. Seine Darstellung des menschlichen Lebens zuerst in einer Welt ohne Uhr – er nennt diese Vormoderne die „Zeit der Natur“; dann nach Erfindung der Uhr in der Moderne und heute in der Postmoderne – unter dem Motto „alles zu jeder Zeit“ – liest sich wie ein historischer Krimi. Und unübertroffen bleiben Geißlers immer mit Ironie und Geist gespickten Ausführungen zu den „Themen der Zeit“: die Zeit zwischen den Jahren, die Uhrenumstellung, das Lob der Pause, die Freuden der Langeweile, der Wahn von Zeit = Geld, der verkaufsfreie Sonntag, die Verabschiedung der Uhr aus dem modernen Leben, oder die kleinen „Zeitbeschleuniger“, wie beispielsweise Reißverschluss, Tempo-Taschentuch, Tütensuppe, Thermomix oder Filterkaffee. Natürlich wusste er kritisch Kluges zum Thema „Nachspielzeit im Fußball“ aufs Papier zu bringen, war er doch begeisterter Fan dieses Sports und hielt immer treu zu den Schwarz-Gelben aus dem Ruhrgebiet.

Während der Weltmeisterschaft und danach in den vielen Liga-Spielen wird es mit Garantie wieder Nachspielzeiten geben. Im Leben allerdings nicht. Karlheinz A. Geißler ist am 9. November 2022 im Alter von 78 Jahren gestorben.

Dr. Martin Hartmann

Karlheinz A. Geißler und Martin Hartmann haben vor 17 Jahren unter dem Titel „Zeitreißen“ ein kleines Büchlein gemacht. Ge-dichte/Gedachte mit Fotos; handgesetzt, handgedruckt und handgebunden bei „garagendruck“ in München – für jegliche Form von Zeitmanagement natürlich ungeeignet.