Zum Ausklang des Jahres ein schöner Text von Karlheinz Geißler über die Zeitinstitution des Feierabends.

Geruhsame Zeiten!

 

 

„Feierabend“? Ja, was ist denn das?  Eine Frage, viele Antworten. Ähnlich wie man auf die Frage „Was ist Zeit?“ eine große Zahl unterschiedlicher Auskünfte erwarten darf, so auch bei der Frage: Was eigentlich ist „Feierabend“? Erkennen die einen in ihm ein Zeitsignal, so andere eine Zeitinstitution und für dritte ist der Feierabend wenig mehr als eine Sentimentalität aus längst vergangenen Zeiten. Eine zunehmend größer werdende Anzahl junger Menschen weiß heutzutage überhaupt nichts mehr mit so etwas Seltsamen wie einem „Feierabend“ anzufangen, während ältere Mitmenschen mit „Feierabend“ den Namen des am Waldrand stehenden Pflegeheims, das auf sie wartet, assoziieren.  Für die allermeisten Zeitgenossen, denen das Wort „Feierabend“ noch etwas sagt, wird mit dieser Metapher das Ende des Arbeitstages markiert, für andere beginnt mit dem Feierabend die Freizeit, Zeit, die man mit der Familie verbringt, oder es fängt das an, was die Amerikaner „Quality Time“ nennen. Ganz ähnlich verschieden sind auch die Bilder und Szenen, die der Begriff „Feierabend“ hervorruft. Sie reichen vom erschöpft im Ohrensessel dösenden Familienvater über Arbeiter und Angestellte, die sich tagtäglich ihren Dämmerschoppen in ihrer Stammkneipe genehmigen, bis hin, zu, besonders aus frühen Filmen bekannten Szenen abgearbeiteter Werktätiger, die durchs Fabriktor eilend, der untergehenden Sonne entgegen, auf die Straße strömen.

Eine solch breite Variation unterschiedlicher Vorstellungen, Bilder und Praktiken vom Feierabend muss nicht all zu sehr beunruhigen, da die Freiheiten, die solche Vieldeutigkeiten eröffnen und ermöglichen, nicht zu unterschätzen sind. Wer hätte nicht schon die Erfahrung gemacht, dass Unklarheiten, Unschärfen und Mehrdeutigkeiten nicht hin und wieder auch eine ganze Menge an Spielräumen und Freiheiten eröffnen. In der Alltagskommunikation wissen wir die ausfransende Bedeutungsvielfalt von Begriffen zu schätzen. Sie bringt Abwechslung ins Dasein, sorgt für Unterhaltung, für Diskussionen und ab und zu auch für Spaß. Völlig anderer Meinung hingegen ist die Wissenschaft. Sie fordert Eindeutigkeit und Unverwechselbarkeit, verlangt Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit. Und so ist der „Feierabend“ für den zeitbewussten Sozialwissenschaftler: „Eine auf einer dauerhaft zeitlichen Ordnungsvorstellung fußende Zeitinstitution, die für die soziale Praxis zeitliche Entlastung und zeitliche Regulierungsleistungen erbringt.“ So „ausgetrocknet“ stellt sich der Feierabend dar, wenn man ihn von einer ihn überfliegenden Drohne herab fotografiert. Ganz anders hingegen sieht der Feierabend aus, ganz anders blickt er zurück und ganz anders auch fühlt er sich auch an, wenn man sich entscheidet, ihn mal wieder wirklich zu machen.

Der Feierabend hat eine Geschichte in der er eine Menge unterschiedlicher Fußabdrücke hinterlassen hat. Die weitaus längste Zeit der Menschheitsgeschichte kannte man ihn gar nicht. Dann wiederum gab es Zeiten, da wurde er geliebt und gefeiert, aber es gab auch Epochen, die es nicht so gut mit ihm meinten, in denen er ignoriert und für überflüssig erklärt wurde. Schauen wir etwas genauer auf seine bewegte Bedeutungsgeschichte:

Vormoderne
Die Suche nach den Ursprüngen beginnt gewöhnlich, wenn nicht bereits in Luxor, dann im alten Athen oder zumindest in Rom. Doch weder die Ägypter, noch die Griechen und auch nicht die Römer kannten so etwas wie einen Feierabend. Nicht als Zeitinstitution und deshalb auch nicht als Begriff. Der „Feierabend“ stammt aus der vormodernen mitteleuropäischen Welt christianisierter Bauern und Handwerker. Die Sprachgeschichte kennt ihn seit dem 12. Jahrhundert als den vîr-âbend, den Vorabend zu den damals häufigen Feiertage. Bis heute übrig geblieben ist der Heilige Abend, der feierliche Anlauf zur Feier des Weihnachtsfestes.
Hörbar wurde der Feierabend von Beginn an durch das Feierabendläuten, das sich in ländlichen Gebieten bis heute als „Samstagsläuten“ erhalten hat. Das den Feierabend einläutende Glockenritual war einstmals Teil einer hochdiffernzierten hörbaren Zeitkultur, die die Menschen durch jene Zeiten leiteten, die weder mechanische Uhren noch Computer und auch keine Smarthpones kannten. Die Hauptaufgabe der Zeitinstitution „Feierabend“ bestand in der Markierung und der gemeinschaftsfördernden Ritualisierung des Übergangs zwischen den kollektiven Ereignissen Arbeit und Feier/Fest. Feierabend war die Zeit der Vorbereitung und der Einstimmung auf kommende festliche und feierliche Ereignisse. Die Einbettung des feierabendlichen Übergangs in Traditionen, Zeremonien und Rituale sorgte für eine hohe Verbindlichkeit seiner Praxis. Und so ist es denn auch kein Wunder, dass der Feierabend eine Patronin hatte und diese bis heute besitzt. Es handelt sich um die 1313 gestorbene Notburga, die einzige Heilige Tirols, die jedoch erst 1862, als der Feierabend jenseits des Vatikans bereits ein ganz anderer war, von Papst Pius IX heilig gesprochen wurde.

Moderne
War die Übergangsinstitution „Feierabend“ in der Vormoderne vor allem an himmlischen Abläufen ausgerichtet, wird der „Feierabend“ in der dann folgenden Uhrzeitmoderne zu einem irdischen Ereignis. Er wird zu einer Institution des zeitlichen Übergangs zwischen unverfügbaren Zeiten (Erwerbsspäre) und verfügbaren Zeiten (Freizeit). Dabei gehen die  Feierabendtraditionen, meist aus ordnungspolitischen Gründen, eine eingetragene Partnerschaft mit weltlichen Regeln, Verordnungen und Gesetzen ein. Diese heißen z.B. „Sperrstunde“ „Ladenschlusszeiten“, „tarifvertraglich geregelter Arbeitschluss“.
Nicht mehr „Feier“ und „Fest“ sind die Ziele und Zwecke des feierabendlichen Übergangs sondern die „Freizeit“, die in der Alliteration: „Fernsehen, Filzpantoffel, Flaschenbier“ ihren polemischen Ausdruck findet. War der Feierabend in der Vormoderne Zeitgeber einer rhythmisierten Lebenswelt, so wird er in der Moderne zu einem Zeitsignal, das der zunehmenden Vertaktung des Alltags zuarbeitet. Es sind nun weniger Traditionen, eher ist es die Alltagsvertaktung der Industriegesellschaft, die den Feierabend weiter am Leben hält. Typisch dafür die Einführung von Feierabend-Tarifen im Kommunikations- und Verkehrswesen.
Doch auch der vormoderne Feierabend spielt in der Uhrzeitmoderne weiterhin eine Rolle. Je härter, je zehrender die industrielle Arbeitswelt, umso mehr wird der Feierabend für die Werktätigen zu einem gegenweltlichen Sehnsuchtsort, der oftmals in Kooperation mit der Kuckucksuhr das kompensatorische Bedürfnis nach intakter, rhythmischer Zeiterfahrung zu befriedigen weiß. Vor-Bilder zu den in diesem Zusammenhang beliebten biedermeierlichen Feierabend-Idyllen des privaten Glücks im Ohrensessel bei gedämpftem Licht liefern spätromantische Künstler. Allen voran der Zeichner Ludwig Richter und der Maler Carl Spitzweg.

Postmoderne
Die auch als Spätmoderne bekannte Postmoderne, das sind die Zeiten der Ggenwart, machen Feierabend mit dem Feierabend. Wie auch das Mittagsläuten, der Sendeschluss am Ende des Fernsehabends und die Vesper, die Zwischenmahlzeit am Nachmittag, zählt der Feierabend heute zu den verloren gegangenen Zeitsignalen der Alltagsordnung. Die mit dem Treibsand des www kämpfenden hochflexiblen Zeitverdichter des beginnenden 21. Jahrhunderts wissen nichts mehr mit den Ordnungsprinzipien der natürlichen und kosmischen Rhythmen und nur mehr wenig mit den Taktgebern der Industriemoderne anzufangen. Der Feierabend stammt aus einer Welt und einer Zeit, in der man noch „abgeschaltet“ hat. Das ist heute nicht mehr üblich. Freie Wochenenden und Feierabende kennen daher viele jüngere Zeitgenossen nur mehr aus Erzählungen ihrer Eltern „von Früher“ und aus Gedichten mit Kitschverdacht. Der Unterschied zwischen Sonn- und Werktag, den die Generation „Smartphone“ zuweilen irrtümlich für eine Erfindung der Gewerkschaften hält, ist ihnen weitestgehend unbekannt. Erkundig man sich bei ihnen, wie sie ihre Feierabende verbringen, fragen sie sichtlich irritiert zurück: “Feierabend, was ist das?“ Und fragt man dann weiter, wie sie sich in dieser zeitoffenen Welt fühlen, lautet die Antwort häufig „frei“ und „ungebunden“. Mag sein, dass es so ist. Man kann das aber auch, wendet man den Socken der Betrachtung auf links, etwas anders sehen: Sein eigener Herr, das ist man heute nicht mehr. Niemals Feierabend, stets ist man erreichbar, immer steht man auf Abruf bereit, arbeitet mehr als zuvor und das nicht selten auch noch un- oder unterbezahlt.

Der spätmoderne Alltagskult des Kapitalismus wird nicht mehr durch Sonnenauf- und Sonnenuntergänge strukturiert, weder im Privat- noch im Arbeitsleben. Er kennt keine Arbeitsruhe, kein Anhalten und Pausen sind ihm auch fremd. Aus den traditionellen Ruhe- und Rückzugsarealen in häuslichen Wohnzimmern sind, da sich die Arbeit inzwischen zeitlich und räumlich zerfranst hat, so etwas wie Außenstellen von Firmen mit weltweit vernetzten Multimedia-Arbeitsplätzen geworden. Den Ort mit der gemütlichen Eckbank, dem Ohrensessel und der gutartigen Verrücktheit Kuckucksuhr an der Wand, wo man die Distanz zum „Arbeit“ genannten faustischen Tun ehemals genoss, hat jetzt ein nach ergonomischen Vorschriften optimierter Bürostuhl eingenommen von dem aus die Frau des Hauses auf Bitten ihres Chefs auch kurz vor Mitternacht noch ein paar Telefonate mit Kunden in den USA führt.

Traditionelle Zeitinstitutionen, die dem Dasein über lange Strecken eine feste Ablaufstruktur, die einstmals „Normalarbeitstag“ hieß sicherten, fallen den Dynamiken der Flexibilisierung zu Opfer. Dazu gehören neben dem arbeitsfreien Wochenende und dem einkaufsfreien Sonntag auch der einst „Feierabend“ genannte tägliche Arbeitsabschluss. Abgelöst und ersetzt wird in unserer  digitalmodernisierten Arbeitswelt die Zeitinstitution „Feierabend“ mehr und mehr vom Konzept der „zeitoffenen Projektarbeit“. Sucht man zeitliche Orientierungen im Alltagsleben dann sucht man sie heute nicht mehr länger bei Traditionen. In immer geringerem Umfang  werden sie auch von kollektiv verbindlichen Regelungen, von Gesetzen, Verordnungen und Tarifverträgen bereitgestellt. Die Abstimmungsleistungen zwischen den Anforderungen des Alltags und den Zeitbedürfnissen müssen – viele Zeitgenossen meinen „dürfen“- die Einzelnen selbst erbringen. Spätmoderne Gesellschaften feiern und überschätzen das Singuläre. Im Süden Deutschlands kennt man für dieses oftmals anstrengende episodische und situationsflexible Agieren und Reagieren in unsicherem Gelände die Vokabel »Durchwursteln«. Das „Durchwursteln“ des »coolen« Multimedianutzers unserer Tage geschieht in flexibler, mobiler, dezentraler und befristeter Art und Weise. Er jongliert mit den Zeitmustern Takt und Rhythmus in multipel fragmentierten Zusammenhängen und Zeitqualitäten wie der Artist im Circus mit seinen Bällen, immer in dem Bestreben, die individuellen Handlungsspielräume zu vergrößern.

Als »Selbstfestlegung im Unbestimmten« beschreibt Niklas Luhmann jenen Zustand, in dem die Wahl der Zeitmuster und der Zeitinstitutionen in unbestimmter, offener und flexibeler Form erfolgt und der der Feierabend zu einer Zeininstitution wird, die sich auf die Flucht über das Meer der Möglichkeiten begibt und nur noch hin und wieder von konservativen Work-Life-Beratern aus der verstaubten Schublade geholt wird. Immer weniger Institutionen entlasten in dieser unserer Digitalmoderne von den Mühen, dem zeitlichen Dasein eine Gestalt zu verleihen, die Zeitfreude, Lebenszufriedenheit und zeitliches Wohlergehen garantiert. Allein, hin und wieder wundert man sich zuweilen, warum ein Zustand „Zeitfreiheit“ genannt wird, bei dem man, macht man mal wieder Feierabend, das Bild auftaucht, der Großvater würde, bevor er das Büro verlässt, die Schutzhülle über die Schreibmaschine ziehen. Ohne Feierabend jedoch ist das Zeitleben vom Glück soweit entfernt, wie das Leben einer Arbeitsbiene vom Hochzeitsflug einer Bienenkönigin.