27.03.2001
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Fastenpredigt
St. Michael – München
Dritter Fastensonntag, am 27.03.2011
Thema: Inmitten von Stress und Hast
Karlheinz Geißler, München
Alles hat seine Zeit………

„Von der Heilkraft des Fastens.“ Keine Zeitschrift kommt in diesen Vorostertagen
ohne einen Artikel zu diesem Thema, angereichert mit Empfehlungen, Tipps und
Anleitungen aus. Die Zeit spielt dabei jedoch keine Rolle, obgleich uns wenig
anderes so viele Probleme macht,

wie gerade die Zeit. Doch „Zeitfasten,“ das gibt’s nicht – wie sollte das auch gehen. Das ginge nur, wenn wir über die Zeit, wie über eine Ware, ein Konsumgut verfügen, also auch auf sie verzichten könnten.
Das aber ist nicht so, da wir die Zeit nicht haben sondern die Zeit sind. Was wir
jedoch haben sind Uhren. Auf diese, nicht auf Zeit, können wir, wenn wir wollen,
verzichten. Uhren messen Zeit, sie sind aber keine Zeit. Das aber verwechseln die
Menschen häufig. Wir können Uhren kaufen, Zeit, obgleich wir das behaupten,
nicht. Wir können uns Uhren sparen, können aber keine Zeit sparen, obgleich wir
auch das häufig anders sehen. Das Messgerät „Uhr“ ist nicht das, was es misst,
sowenig wie der Finger, der auf den Mond zeigt, der Mond ist. Wer sich, die
Fastenzeit eignet sich dafür sehr gut, das immer mal wieder klar macht, muss die
Alltagshetze unterbrechen, um in Ruhe auf das zu schauen, was wir mit der Zeit in unserem eiligen Alltag alles tun und lassen. Gelingt dies, kommt zum Schluss,
dass es die Zeit im Singular eigentlich gar nicht wirklich gibt. Lebendige Zeit
existiert nur im Plural, als Vielfalt unterschiedlicher Zeitformen und Zeitqualitäten,
als Hetze, Eile, Schnelligkeit, als Warten, Wiederholung, Langsamkeit, als Pause,
Beginnen und Beenden. Das was wir an der Uhr ablesen hingegen ist keine Zeit,
sondern eine von Menschen gemachte Abstraktion von Zeiterfahrung. Deshalb ist
jenes Ereignis, das Sie heute Nacht wahrscheinlich verschlafen haben, auch keine
„Zeitumstellung,“ wie die Medien es mit Vorliebe falsch nennen, sondern eine
„Uhrumstellung.“ Die Uhr liefert keine Zeit, sondern nur ein Bild des Zeitlichen,
ein Bild, das dem Zeitlichen eine gleichförmig voranschreitende Bewegung
verleiht. Genau genommen misst die Uhr nicht einmal Zeit, sie ermittelt und
berechnet Strecken, die von Zeigern auf Ziffernblättern zurückgelegt werden. Die
Uhrumstellung zu einer Zeitumstellung zu erklären, zeigt etwas von dem
Größenwahn des Uhrzeitmenschen, so zu tun, als könne er die Zeit und ihre
Verläufe bestimmen. Nein, wer die Zeit beherrschen will, muss ihr gehorchen.
Nochmals: Wir haben die Zeit nicht, wir sind die Zeit. Das, was der Mensch der
Zeit antut, tuter sich selbst an. Wer die Zeit bekämpft, bekämpft nicht die Zeit
sondern sich selbst. Wer behauptet, die Zeit rase, rast selbst. Wer die Zeit in den
Griff nimmt, nimmt sich selbst in den Griff. Wer Zeit verliert, verliert sich selbst.
Und wer zur beliebtesten aller Ausreden greift und zu einem Gesprächspartner
sagt: „Ich habe keine Zeit,“ der lügt, denn er hat natürlich Zeit, nur nicht für den
Gesprächspartner. Das alles sagen wir, das allen tun wir, weil wir die Uhr mit der
Zeit verwechseln. Das aber ist ebenso abwegig, wie die Verwechslung einer Landkarte mit dem von ihr abgebildeten Gebiet, oder die Speisekarte mit dem Essen.


Die Uhr kennt nur eine Zeit, und das ist eine leblose, eine von allem Erleben und
Geschehen abstrahierte, tote, mechanische Zeit. Die lebendige Zeit – und nur die ist
fürs Leben wichtig – findet man in der Uhr nicht. Lebendige Zeit ist Ereigniszeit.
Sie ist untrennbar verbunden mit Erfahrungen, Erlebnissen, Gefühlen. Der Mensch
nimmt nicht die Zeit, er nimmt Ereignisse, Geschehnisse wahr. Beispielsweise das
Geläut der Kirchenglocken, das den Morgenschlaf störende Rumpeln der
Müllabfuhr, das stets zu laute Türschlagen der Nachbarskinder auf ihrem
morgendlichen Weg zur Schule, das Klappern des Briefkastens zur
Frühstückspause. So vielfältig die Signale, so bunt auch die Zeiten. Die einen
fordern zu mehr Tempo, zur Schnelligkeit auf, die andern zum Verweilen, dritte
zum Abwarten.


Alles das sind, im Gegensatz zur Uhrzeit, lebendige, menschliche Zeiten.
Menschlich sind die Zeiten dort, wo sie vielfältig, bunt und rhythmisch sind. Das
setzt die zumindest phasenweise Abwesenheit der Uhr und ihrer Zeit voraus. So
gesehen gibt es doch ein „Zeitfasten,“ ein Uhrzeitfasten nämlich. Uhrzeitfasten
öffnet die Tür zu einem vielfältige, farben- und artenreichen,
gesundheitsförderlichen Zeitleben, das es erlaubt, lebenssatt und zeitsatt älter
werden zu können, ganz im Sinne von Johannes 10, 10: „damit sie das Leben
haben, und damit sie es in Fülle haben.“

Was tun?
Eine Frage, die man, besonders wenn’s um den Umgang mit Zeit geht, am besten
selbst beantwortet. Ich will Sie aber nicht ratlos nach hause schicken. Deshalb
einige zurückhaltende Hinweise auf das, was man „Uhrzeitfasten“ nennen könnte:

1.) Leben Sie viele Zeiten.
Die Zeit existiert nur im Plural. Ich erinnere an den Predigertext: „Alles hat
seine je Zeit…“ Die Uhrzeit ist nur eine von vielen Zeiten und dazu noch
eine tote. Nehmen wir uns an MOZART’s Musik ein Beispiel. Dort findet
und hört man 23 unterschiedlichen Tempi, die zwischen den Polen
„langsam“ und „schnell“ liegen. Es ist diese Zeitvielfalt, die seine Musik so
lebendig macht.

2.) Das Schnelle ist nicht immer gut, das Langsame nicht immer schlecht
Wer immer und überall schnell ist, ist auch schnell am Ende. Langsamkeit und
Trägheit sind stark unterschätzte Produktivkräfte, privat, sozial und weltpolitisch.
Krieg – das sehen wir gerade mal wieder – ist schnell, Frieden – das beweist die
Situation auf dem Balkan – ist langsam. Ohne Langsamkeit keine Liebe, keine
Freundschaft, kein Vertrauen. Müßiggang, so Christa Wolf, ist aller Liebe Anfang.
Die Eile, die Hetze vermindert die Liebe und die Friedfertigkeit in dieser Welt.
„Wären wir ruhiger, langsamer, so ginge es uns besser, ginge es schneller mit
unseren Angelegenheiten voran,“ schreibt der produktiv Langsame Robert Walser

3.)Warten kann sich lohnen
Warten ist entgegen verbreiteter Vorurteile nicht immer und überall verlorene
Zeit. Warten ist weit mehr als nur erzwungener Verzicht auf aktives Handeln.
Warten zur richtigen Zeit spart nicht selten jene Kosten und Energien, die ein
eilfertiger Aktivismus verursacht. Das wissen wir aus dem Märchen von den drei
Wünschen, bei dem der Schaden, den der voreilig geäußerte erste Wunsch
verursacht hat, durch die beiden restlichen Wünsche wieder gut gemacht werden
muss. Wer nicht warten kann, kann auch nichts erwarten. Der Pauker im Orchester
muss warten bis er dran ist, um aus der Musik keinen Lärm zu machen, der Bauer
muss auf den Herbst warten, sonst bekommt er keine dicken Kartoffel und nur
saure Äpfel, und auf Ostern müssen wir warten, um uns auf Ostern freuen zu
können.

4.) Pausen sind keine überflüssigen Zeitlöcher
Pausen sind Abstandhalter. Ohne Pausen existierten kein Anfang und kein Ende
und wir würden nicht wissen, wo diese lägen. Pausenlos müssten wir, das
Schicksal des Steinewälzers Sisyphos teilend, immerzu weiter machen. Pausen erst
öffnen die Chance, sich von Altem zu trennen um Neues beginnen zu können.
Zeitwohlstand ist Pausenwohlstand, und Pausenwohlstand haben wir dann, wenn
wir verfügbare Zeit haben, über die wir nicht verfügen. Die schönsten Zeiten sind
nun mal nutzlos, sinnlos sind sie nicht.

5.) Zeit nicht überall und immer in Geld verrechnen
Wir haben beigebracht bekommen, Zeit in Geld zu verrechnen und sind dafür mit
Güter- und Geldwohlstand belohnt worden. Nicht beigebracht jedoch hat man uns,
dass man nicht allem Zeitlichen ein Preisschild umhängen kann, sich nicht alle Zeit
kaufen und verkaufen lässt. Dazu gehören so wichtige Dinge, Zustände und
Erfahrungen wie das Seelenheil, die Liebe, die Weisheit, die Zufriedenheit, die
Bildung, das Glück, aber auch der derzeit unter Verkaufsdruck stehende Sonntag.
Die Zeiten die zählen, sind nun mal die Zeiten, die nicht gezählt werden.

6.) Nicht jede gesparte Zeit in neue Beschleunigung investieren
Wir sparen Zeit indem wir schneller fahren, schneller gehen, schneller sprechen, schneller
lernen. Und wir sparen dadurch Zeit, dass wir vieles gleichzeitig tun: Telefonieren während
des Essens, beim Autofahren, beim Kochen. Während wir uns unterhalten, checken wir
unsere Mails, surfen im Internet und organisieren wir unsere Termine. Wir Lernen beim
Joggen, beim Bergsteigen und am Steuer des Autos. Ohne Unterbrechung sparen wir Zeit.
Was aber tun wir mit der gesparten Zeit? Darüber machen wir uns keine Gedanken. Und weil
wir uns keine Gedanken darüber machen, sparen wir mit der gesparten Zeit noch mehr Zeit.
Wir sind aber nicht auf der Welt, um die Zeit zu sparen, sondern um sie zu leben. Fangen wir
damit endlich an.

7.) Leben und arbeiten Sie rhythmisch
Der Rhythmus ist das Zeitmuster der Natur. Der Mensch ist Teil der Natur. Das
Leben der Menschen ist eine Symphonie der Rhythmen. Der Rhythmus, so eine
Schlagerweisheit, liegt den Menschen im Blut. Der Rhythmus macht ihn lebendig.

Ganz anders die Uhr. Sie kennt keinen Rhythmus, sie kennt nur den sturen Takt.
So auch die vielen Maschinen, Geräte und Instrumente, die dem Menschen ohne
Unterlass ihr Zeitdiktat aufzwingen. Das führt, es ist nicht mehr zu übersehen, zu
ökologischen Problemen und zu Gesundheitsschäden. Schlafstörungen, Herz-
Kreislauf Erkrankungen, Schwächung des Immunsystems, erhöhte Anfälligkeit für
Krankheiten, depressive Verstimmungen, und soziale Vereinsamung sind, das
belegen viele medizinische Studien, darauf zurückzuführen. Werden wir taktloser!
Uhrzeitfasten böte die Chance, zu einer rhythmischen und damit menschlicheren
Lebensweise zurückzufinden.

8.) Pflegen und genießen Sie die Kunst, Letzter zu sein
Nur die sind auf der Höhe der Zeit, die ihr mit Abstand folgen.
Alle kennen wir das biblische Versprechen: „Die Letzten werden die Ersten sein.“
Und trotzdem, alle drängen nach vorne und übersehen dabei die vielen Vorteile,
Annehmlichkeiten und Freiheiten die die hinteren Plätze zu bieten haben. Wer die
Kunst, Letzter sein zu können beherrscht, erspart sich den Aufwand, die
Anstrengung, den Kräfteverschleiß, sich an die Spitze zu kämpfen und auch die
Angst, von dort wieder vertrieben zu werden! Verzichten wir also besser auf den
Platz an der Spitze, zumal er einsam macht. Ich will es noch konkreter machen:
Überprüfen wir doch mal, was ich „die kleinen Siege des Alltags“ nenne: Ich
meine die Befriedigung, die man erfährt, wenn man bei „grün“ als erster an der
Ampel starten, oder das Erfolgserlebnis, das einen überkommt, wenn man kurz vor der Supermarktkasse, am Skilift, am Postschalter noch jemanden überholt der in
der Schlange dann hinter einem steht. Lassen wir’s, verzichten wir darauf und
genießen wir in der Fastenzeit stattdessen die Freuden des Überholtwerdens und
das wohlige Gefühl, den Rücken frei zu haben.
Alles das sind nur Anregungen – mehr nicht. Anregungen, die auch dazu dienen
könnten, dass Sie, wenn Sie mal wieder Zeit haben, auf ihr Leben zu schauen, ein
paar Versäumnisse weniger beklagen als der große argentinische Schriftstellers

Luis Jorge Borges:
AUGENBLICKE
Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben,
würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich gewesen bin,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde nicht so gesund leben.
Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen,
Sonnenuntergänge betrachten, mehr bergsteigen,
mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen, die jede Minute ihres Lebens fruchtbar
verbrachten;
Freilich hatte ich auch Momente der Freude,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen, nur mehr gute
Augenblicke zu haben.
Falls Du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich das Leben;
Nur aus Augenblicken; vergiss nicht den jetzigen.
Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den
Spätherbst hinein barfuß gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen, wenn ich das leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie … ich bin 85 Jahre alt und weiß, dass ich bald sterben werde.
(J.L.Borges. Ges.Werke Bd. 1/Gedichte München 1983)

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Autor: Karlheinz Geißler, Prof. Dr., schreibt, lehrt und lebt in München und
leitet, gemeinsam mit Kollegen das Zeitberatungsinstitut „timesandmore“
(Kontakt: www.timesandmore.com). Neueste Veröffentlichung: Lob der Pause –
Warum unproduktive Zeiten ein Gewinn sind. Oekom Verlag, München 2010