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Evolutionäre Transformation

(von Jonas Geißler, 2023)

Alles hat seine Zeit. Der Bibelspruch trifft, wie im Buch Kohelet beschrieben, eben nicht nur auf das Sähen und Ernten zu, sondern auch auf Transformationsprozesse. Ob individuell, organisational oder gesellschaftlich, sie haben stets mit lebenden Systemen zu tun und sind daher an deren Eigen- und Systemzeiten gekoppelt. Dies lässt sich an kulturellen Rhythmen wie Moden, Memen, politischen Strömungen beobachten oder auch an biologischen Kreisläufen.

All diese Prozesse sind zeitlich determiniert. Sie lassen sich in einem gewissen Rahmen beschleunigen, zum Beispiel die Wachstumsgeschwindigkeit von Tieren und Pflanzen. Aber die Beschleunigung hat immer auch ihren Preis – Stichwort Massentierhaltung. Bei Transformationsprozessen in Organisationen kann die Missachtung der Eigenzeiten teure Konsequenzen haben. Die Symptome reichen von Veränderungszynismus über erhöhte Krankenstände und Personalfluktuation bis hin zu verstärkten Beharrungstendenzen, also dem Gegenteil von Transformation.

Menschen sollten Zeit bekommen

Wirksame Transformationsprozesse gelingen, wenn Menschen die Zeit bekommen, sich zu informieren, zu verstehen, das Neue auszuprobieren und zu integrieren, die Zeit, um mit ihren eigenen Befürchtungen und Bedürfnissen umzugehen und Ambivalenzen durch Erprobung zu verarbeiten. Es braucht Zeit zum Lernen und Verlernen von Gewohnheiten, zum Entwickeln eigener Haltungen und Verhaltensweisen. Die evolutionäre (Ver-)Lernschleife von Planen, Handeln, Reflektieren, Anpassen verliert ihre Wirkung, wird sie allzu stark beschleunigt.

Eine Abkürzung ist nur über erheblichen Druck, meist in Form von Krisen, möglich. Ist das Drohszenario groß genug, sind Menschen bereit, radikale Veränderungen in kurzer Zeit durchzuführen. Als kurzfristige Coping-Strategie mag dies in mancher Krise seine Berechtigung haben, es sei aber davor gewarnt, dies als Methode zu etablieren und nur für ausreichend große Krisen zu sorgen, um schnelle Veränderungen herbeizuführen. Der Preis ist auch hierfür meist hoch – siehe oben.

Auch soziale Systeme brauchen ihre Zeit

Für die Transformation von sozialen Systemen und ihren Interaktionsmustern sollte ebenso die Zeitlichkeit des Systems Berücksichtigung finden. Sie folgt den evolutionären Prinzipien von Variation, Selektion und Retention (Verfestigung). Alle drei Prozesse brauchen ihre Zeit: für das Einbringen von neuem Verhalten (etwa mittels Beobachtung und durch Kommunikation), für die Entscheidung zum neuen Verhalten und für dessen Verfestigung durch Wiederholung.

Wie lange dies jeweils dauert, hängt von den Beharrungskräften und der Tatsache ab, dass jede Intervention vom System stets als Irritation verarbeitet wird, deren Folgen unvorhersehbar sind. Jedoch tendieren Muster in sozialen Systemen eher dazu, konservativ zu sein. Für das Überleben des Systems hat dies die wichtige Funktion der Selbsterhaltung. Für Veränderungen ist es eher hinderlich. Auch hier- bei können lediglich Krisen zu disruptiven Veränderungen führen. Was dies bringt und was es kostet, haben wir alle in der Pandemie erfahren.

Von daher ist mein Hinweis für alle, die sich mit Transformationsprozessen beschäftigen: Ob sie gelingen oder nicht, ist in erster Linie eine Frage der Zeit!