An mehr als 500 Millionen EU-Bürger erging die Aufforderung, ihre Meinung zu einer möglichen „Zeitumstellung“ abzugeben. 4,6 Millionen – weniger als 1 % sind dem Aufruf gefolgt, drei Viertel davon Deutsche. 84% votierten für die Abschaffung. Soweit die Daten. Was sagen sie?

Die Beteiligung von weniger als 1% an der Umfrage zeigt, bei der „Zeitumstellung“ handelt es sich um ein Phantom-Problem. Sie wird vor allem von den Deutschen als problematisch, sprich: als korrekturbedürftig wahrgenommen.  Warum ist das so? Die Antwort bedarf eine Blick in die Geschichte der Veruhrzeitlichung des modernen Menschen.

Zuvor aber ein wichtiger, nicht nur sprachlicher Einwand gegen den Sprachgebrauch in dieser Angelegenheit. Gesprochen wird von einer „Zeitumstellung“. Das Formulierung, die größenwahnsinnigen Vorstellungen infiziert ist. Keinem noch so mächtigen Menschen ist es bisher gelungen, die Zeit umzustellen. Es sind weder die Zeit noch die Sterne an denen zweimal jährlich gedreht wird. es sind die Zeiger der Uhr. Die „Zeitumstellung“ ist eine Uhrumstellung. Glücklicherweise! Würde nämlich die Zeit umgestellt, wären wir danach in einer anderen Welt. Während uns Bürgern im Frühjahr eine Stunde geraubt wird die uns im Herbst wieder zurückgegeben wird, tut die Zeit was sie immer tut – sie geht völlig unbeeindruckt weiter ihren Gang. Der aber ändert sich permanent, ohne dass dagegen Einspruch erhoben würde. Der wäre auch sinn- und zwecklos. Gegen die zweimal jährlich stattfindende Uhrzeigermanipulation hingegen erhebt sich regelmäßig mal mehr mal weniger heftiger Protest. Der hat nicht nur damit zu tun, dass sich die Erwartungen, durch diese Maßnahme Energie sparen zu können, nicht erfüllt haben. Der erklärt sich auch und wohl zum größten Teil, aus der Tatsache, dass mit der Uhr Macht ausgeübt wird.

Die Uhr ist eine von Menschen erfundene Maschine, die von mächtigen und einflussreichen Personen verwendet wird um Ordnung, insbesondere soziale Ordnung zu machen. Mit der lebendigen Zeit und dem wirklichen Zeitverlauf hat das überhaupt nichts zu tun. Bisher gibt es keine Indizien, dass sich Sonne, Mond und Sterne nach den Zeitentscheidungen der Bundesregierung oder des Europäischen Parlaments richten? Nicht einmal das Wetter ändert sich bei der zweimal jährlich stattfindenden Zeigermanipulation, wo „Wetter“ und „Zeit“ zumindest in den romanischen Sprachen eins sind. Das was fäschlicherweise „Zeitumstellung“ genannt wird hat außschließlich damit zu tun, wie wir in unserer Gesellschaft das Werden und Vergehen zählen und ordnen. So gesehen sind die regierungsamtlich festgelegten künstlichen Stromschnellen im kontinuierlich fließenden Fluss der Uhrzeit vergleichbar mit dem Umstellen der Badezimmerwaage von Normal- auf Sommergewicht. 

Wir sprechen von „Moderne“, wenn nicht mehr Gott sondern der Mensch auf die Zeitverläufe zugreift. Heute erhebt die staatliche Exekutive den Anspruch, über die zeitlichen Spielregeln der Gesellschaft zu bestimmen und sie gegebenfalls zu verändern. Die Entscheidugsmacht über die Zeitordnung und über die Ordnung der Zeiten zählen zum staatlichen Gewaltmonopol. Die Staatsmacht setzt ihre Zeitmacht mit der gleichen Konsequenz durch wie sie das Ordnungsamt in die Familien von Schulschwänzern und den Gerichtsvollzieher in die Wohnungen von Steuerschuldnern schickt. Es ist der Staat, der entscheidet, welche Vorstellungen von Zeit zu offiziellen werden und wie sich diese in Ordnungsstrukturen abbilden. Beim Gesetzgeber liegt die Definitions- und die  Verfügungsmacht über das, was Zeit ist und wie diese organisiert wird.  Dieser Herrschaftsanspruch wird jährlich zweimal, im Frühjahr und im Herbst, erneuert und auf seine Akzeptanz bei der Bevölkerung getestet.

Der Blick zurück in die Herrschaftsgeschichte der Uhr und ihrer Zeigerzeit ist zugleich eine Erinnerung daran, dass die Landesherren – heute: „Vater Staat“ – autoritär über die jeweils gültige Zeitordnung, also auch über die Manipulationen an der Uhrzeit bestimmen. Diese Zeigermanipulationen lassen die diktatorischen Zumutungen aufleben, die mit der Veruhrzeitlichung der Bürger und Bürgerinnen, ihrer Pünktlichmachung und der Vertaktung der Gesellschaft einhergingen. Aus dieser Perspektive lässt sich die staatlich verordnete Manipulation der Uhrzeit auch als ein despotischer Akt verstehen, der die Staatsbürger ihren Status als Befehlsempfänger von Zeitvorgaben spüren lässt. Das weckt Widerstand, der die mehr oder weniger große Aufregung erklärt. Einerseits fordert und verlangt die Gesellschaft heute von ihren Mitgliedern wachsende zeitliche Flexibilität und das heißt, mehr individuelle Zeitentscheidungen. Zum anderen, und dafür stehen die staatlich angeordneten Uhrzeitmanipulationen, erwartet man die Unterwerfung der Bürger unter die gesetzlichen Zeitgesetze. Das Aufregende, und für nicht wenige Zeitgenossen auch Empörende, ist also nicht die Manipulation der Zeiger, sondern die Zumutung ihrer autoritären Anordnung. Zweimal jährlich, im Frühjahr und im Herbst stehen die Bürger vor der ihnen aufgezwungenen Frage: Zeitsouveräner Bürger oder pflichttreuer Untertan?

Umfragen im Inland sagen, dass 74 Prozent der Befragten die von „oben“ verordnete Zeigermanipulation abgeschafft haben wollen. Doch mit Umfragen ist das bekanntlich so eine Sache. In diesem Fall ganz besonders. Fragt man die Betroffenen bei der Frühjahrsumstellung morgens, sind mehr als 74 Prozent  gegen die Uhrumstellung. Das frühere Aufstehen ist ihnen lästig. Fragt man sie hingegen am Abend, können sie der Umstellung erheblich mehr abgewinnen, da sie die längere Helligkeit genießen.

Es gibt für die Machteliten unserer Demokratie also keinen Anlass, die Armee zu mobilisieren, um ihre Untertanen zu zwingen, nach dem gesetzlich festgelegten Diktat der Zeiger zu tanzen. Auch in Zukunft können sich die bei der Komödie „Uhrumstellung“ in der ersten Reihe sitzenden Politiker sichergehen, dass ihre Wähler und Wählerinnen auf die Uhr schauen, wenn sie wissen wollen, ob Zeit vergeht. Die Uhr geht nach wie vor – vielleicht auch deshalb, weil der verordnete Regelverstoß den eintönigen Verlauf der Zeiger etwas weniger langweilig macht.

Einen Vorteil zumindest kann man der Uhrumstellung abgewinnen. Sie demonstriert, und das zweimal jährlich, dass unser Umgang mit Zeit und die Ordnung unseres Zeitlebens auch ganz anders sein könnten. Wir haben die Freiheit, der Zeitordnung und dem Zeithandeln eine andere Gestalt und eine andere Richtung zu geben. Dafür müssen wir die Zeit nicht in jenes Gefängnis zwingen, für das die Uhrmacher die Gitterstäbe bereitstellen. Wir könnten, und die Klagen gegen die Zeigermanipulation laufen häufig darauf hinaus, unser Zeithandeln mehr an den lebendigen Zeiten unserer Zeitnatur und weniger an den toten Zeitverläufen der Uhr ausrichten.