Interview mit Prof. Dr. Karlheinz A. Geißler in ÖkologiePolitik, 17.04.2020

 

Seit Jahren wird eine Entschleunigung unseres Alltags angemahnt. Durch die Corona-Pandemie ist sie nun plötzlich da. Die Scheinnormalität unserer Gesellschaft zerbröselt. Das Selbstverständnis „Ich hetze, also bin ich“ funktioniert nicht mehr. Doch nichts tun ist so einfach nicht. Was macht das mit uns? Verändert sich unsere Gesellschaft gerade?

 

ÖkologiePolitik: Herr Prof. Geißler, versuchen wir der aktuellen Corona-Pandemie etwas Positives abzugewinnen. Sie entschleunigt unsere Gesellschaft – in Ihrem Sinne?

Prof. Dr. Karlheinz A. Geißler: Das wäre übertrieben. So hatte ich mir die Reduktion des Tempos, vor allem die der überflüssigen Hetze nicht vorgestellt. Die Entschleunigung ging auch zu schnell, war zu sehr ein „Schock“, um als sinnvolle und nachhaltige „Kehrtwende“ erlebt und akzeptiert zu werden. Und für nicht wenige Personen hat sich der Zeitstress ja sogar verstärkt. Der Kampf um die Vereinbarkeit von Arbeits- und Privatleben, das Zusammentreffen unterschiedlichster Zeitkulturen, findet nun – von der äußeren Welt isoliert – im eigenen Wohnzimmer statt. Bürotätigkeit, Freizeit, Familienleben, alles am gleichen Ort, alles zur gleichen Zeit: Arbeiten, Spielen, Lernen, Kochen, Lieben. Zeitstrukturen, die kürzlich noch vom Arbeitsumfeld, von der Kita oder der Schule vorgegeben wurden, müssen jetzt selbst austariert werden. Da heißt es, eine neue Zeitbalance finden. Vor allem aber, den Alltag zu entlasten und ihn zu enthetzen. Trotzdem habe ich die flehenden Bitten der Politiker „Tempo rausnehmen!“ gerne gehört und mir gewünscht, ich hätte sie auch schon früher und unter besseren Umständen vernehmen können.


Haben Sie in den letzten Wochen neue Erkenntnisse gewinnen können?

Was neue Erkenntnisse betrifft, so brauchen diese – wie ein Impfstoff gegen das Virus – auch Zeit. Ich halte nichts von schnellen Erkenntnissen. „Unsere Erkenntnis“, so Immanuel Kant, „hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft.“ Das dauert. Die Schrittgeschwindigkeit des Fußgängers ist für Erkenntnisse angemessener als die Geschwindigkeit eines Computers. Erkenntnisse entwickeln sich über Umwege.


Welche Chancen eröffnen sich durch die Corona-Pandemie?

Die virusbedingte Zwangsbremsung unserer bisher auf Höchstgeschwindigkeit getrimmten Nonstop-Gesellschaft eröffnet die Chance, eine langsamere, vielfältigere und zufriedener machende Zeitwelt zu entdecken als die, durch die wir bisher stets nur durchgerast sind. Während der dabei erzwungenen Begegnung mit uns selbst könnten wir – vorausgesetzt wir wollen es – den beschaulichen Aspekten unseres Zeithandelns wieder größere Beachtung und mehr Raum geben. Wir könnten die Lustversprechen der Muße und des Verweilens austesten, das in der Tempogesellschaft zum abweichenden Verhalten erklärte „Trödeln und Trudeln,“ wie es Thomas Mann genannt hat, vom Eckensteherdasein befreien. Heute, da uns die Erkenntnis zugemutet wird, dass Leben nicht später, sondern jetzt stattfindet, ist es an der Zeit, sich an die wirklich wichtigen Fragen des Lebens zu machen: Wie will ich eigentlich leben? Wann ist es genug mit all der Hetzerei? Was tut mir gut? Was macht diese Gesellschaft lebenswert und zukunftsfähig? Schluss also mit der Ausrede „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur so selten dazu“. Zeit – die haben wir genug. Und das Schöne ist: Täglich kommt neue nach.


Wird die Corona-Pandemie unsere Gesellschaftskultur dauerhaft verändern? Oder geht danach alles wieder so weiter wie bisher?

Ginge es so weiter wie bisher, wäre das ein Desaster. Was vorher war, war ebenso wenig „normal“ wie das, was heute ist. Die Gelegenheit, aus Krisen zu lernen, sollte man nicht leichtsinnig verschwenden. Jetzt, da wir gezwungen sind, im Haus zu bleiben, abzuwarten und auszuhalten, ist die Zeit auf einmal kein knappes Gut mehr. Und sie ist nicht mehr vor allem Geld. Im Gegenteil: Zeit ist, was sie vor dem gegenwärtigen Ausnahmezustand auch immer schon war: ein Lebensmittel. Time is honey. Jetzt erleben und erfahren wir, dass die von uns mitgestaltete Zeitwirklichkeit weniger gemessene Zeiten und mehr angemessenere Zeiten braucht. Dazu gehört die Domestizierung und aus einigen Lebenswelten, vor allem aus dem Sektor Gesundheit, auch die Verbannung der von der Beschleunigung lebenden Zeit-ist-Geld-Logik. Eine solidarischere und achtsamere Welt, wie sie in so manch einer frohen Osterbotschaft beschworen wurde, wird hingegen wohl ein frommer Wunsch bleiben. Dass vieles so weitergehen wird wie zuvor, lässt das Gerede vom „wieder Hochfahren“ vermuten. Die Unternehmenskonzentration wird sich beschleunigen, da Großbetriebe krisenresistenter sind und auch mehr von Staatshilfen profitieren als Kleinbetriebe. Ein Beispiel: Amazon ist Krisengewinner, Stadtteilbuchläden sind Krisenopfer. Der sich bereits vor der Krise abzeichnende Trend zur Digitalisierung wird sich beschleunigen und dabei Sektoren erreichen, die bisher davon weitestgehend unberührt waren. Die Orte der Arbeit werden sich – u. a. weil viele Arbeitskräfte gezwungenermaßen die Vorteile des Homeoffice haben kennenlernen müssen – mit denen des Sozial- und des Privatlebens mehr und mehr verzahnen. Der Kapitalismus ist virusresistent. Er macht zwar eine Pause, muss aber nicht beatmet werden. Wie wir ihn kennen, nutzt er die Pause, um anschließend mit mehr Energie und Tempo seinen Weg fortzusetzen. Mit der Corona-Krise wird der Kapitalismus ähnlich verfahren, wie er dies auch bisher mit Krisen gemacht hat: Er macht sie zu einem Potenzmittel in eigener Sache, vulgo: zum Geschäft. Es sind nämlich Krisen, die die Überlebensfähigkeit des Steigerungskapitalismus stärken.


Was müsste passieren, damit sich positive Veränderungen verstetigen?

Was sich verstetigen sollte, sind die lehrreichen Konsequenzen aus der Corona-Krise und deren Verknüpfung mit Maßnahmen gegen die ja weiterhin wirkmächtige ökologische Krise und die Klimadramatik. Es wäre zu wünschen und zu hoffen, dass bei dem für die nächsten Wochen vorausgesagten „Hochfahren“ der Wirtschaft Kriterien der Nachhaltigkeit und Klimaneutralität verstärkt Berücksichtigung finden würden. Unsere Gesellschaft bräuchte mehr Orte und Zeiten, die von den Zumutungen der Zeit-ist-Geld-Diktate verschont bleiben, kleine Reiche der Freiheit jenseits der Notwendigkeit. Dies setzt voraus, dass sich das ökonomische Zeit-Nutzen-Denken auf den Bereich der Wirtschaft beschränkt und die Sektoren des Privaten, des Sozialen und Kulturellen von den Prinzipien des ökonomischen Warentauschs verschont bleiben. Denn die von Jürgen Habermas beschriebene „zunehmende Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch die Imperative des ökonomischen Systems hat inzwischen eine breitere empirische Bestätigung erfahren, als der Gesellschaft und ihren Bürgerinnen und Bürgern guttut.


Gibt es dafür Anzeichen?

Die Antwort hole ich mir beim Weimarer Feudalbeamten Johann Wolfgang von Goethe: „Wir hoffen immer, und in allen Dingen ist hoffen immer besser als verzweifeln. Denn wer kann das Mögliche berechnen?“


Herr Prof. Geißler, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

 

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