Interview mit Karlheinz Geißler VdK Zeitung, 30.09.2017

 

Zeitforscher Professor Dr. Geißler lebt ohne Uhr und empfiehlt einen flexibleren Umgang mit Terminen und Verabredungen

Die Uhrumstellung nimmt Prof. Dr. Karlheinz Geißler im Unterschied zu anderen Zeitgenossen gelassen hin. Denn der 72-jährige Zeitforscher, der mit seinem Sohn Jonas Geißler das Buch „Time is honey: Vom klugen Umgang mit Zeit“ verfasst hat, trägt keine Uhr und schaut nur selten nach, wie spät es ist. Im Interview mit der VdK-Zeitung rät er zu einem flexibleren Umgang mit der Uhrzeit.

Haben Sie eigentlich gemerkt, dass ich pünktlich angerufen habe?
Karlheinz Geißler: Das weiß ich, so gegen halb elf. Und jetzt ist es so gegen halb elf. Aber Pünktlichkeit auf die Minute ist bis auf ganz wenige Momente im Leben auch nicht wichtig. Sie hätten auch fünf Minuten später anrufen können.

Wenn jemand zu spät zu Ihnen kommt, ist das kein Problem?
Geißler: Nein. Wer fünf Minuten zu spät kommt, der kommt bei mir nicht zu spät. Ich habe einfach Toleranzen.

In der Nacht zum 29. Oktober wird die Uhr wieder um eine Stunde zurückgestellt. Ende März wird sie dann wieder um eine Stunde vorgestellt. Immer wieder wird das, auch von Politikern, kritisiert. Was halten Sie davon?
Geißler: Im Gegensatz zu den statistisch erfassten 74 Prozent meiner Mitbürger, die dieses Ereignis lieber abschaffen würden, habe ich nichts gegen das jährlich wiederkehrende Ritual der Uhrumstellung. Es ändert nämlich nichts an der Zeit, und die ist mir wichtiger als die Uhr. Ich finde, es gibt dramatischere und lohnendere Ereignisse, um sich aufzuregen und, wenn es denn unbedingt sein muss, sich je nach Bedarf auch zu empören.

Es gibt aber doch immer wieder Berichte von einer höheren Zahl an Unfällen zu Beginn der Sommerzeit.
Geißler: Die gibt es auch. Das liegt einfach daran, dass die Menschen unausgeschlafen sind, weil sie früher aufstehen müssen, und dann unaufmerksamer sind und deswegen Verkehrs- oder Arbeitsunfälle verursachen. Aber die Aufregung ist immer nur kurz. Denn es ist auch kein schwerwiegendes Problem.

Wie könnte man denn die Unfälle verhindern?
Geißler: Indem man Gleitzeiten einführt. Viele Betriebe haben das ja schon. Die Unternehmen wollen nicht, dass die Mitarbeiter unausgeschlafen in die Arbeit kommen und dann ineffektiv arbeiten. Das ist unrentabel. Sie wollen lieber, dass die Mitarbeiter ausgeschlafen sind. Das ist eine knallharte ökonomische Kalkulation.

Bei der Gleitzeit profitieren ja beide Seiten, die Arbeitnehmer und Arbeitgeber – also eine Win-Win-Situation.
Geißler: Ja. Genau. Eine der wenigen, die es in den Betrieben gibt.

Aber was raten Sie Eltern, die ihre Kinder pünktlich in die Schule bringen müssen?
Geißler: Die Schule zu ändern. Die Eltern müssen die Schule ändern. Das ist doch Terror. Ich war selbst Lehrer und habe durchgesetzt, dass ich erst um 10 Uhr unterrichten muss. Wie soll denn die Schule aufs Leben vorbereiten, wenn es in Betrieben Gleitzeit gibt und in der Schule nicht?

Das ist aber nicht so einfach. Man muss sich ja an die staatlichen Vorgaben halten. Wie haben Sie denn Ihre Kinder pünktlich zur Schule gebracht?
Geißer: Natürlich sind die Kinder mit dem Wecker aufgestanden, was ich furchtbar finde. Warum können die Kinder nicht zwischen acht und neun Uhr beginnen? Die erste Stunde wird dann so organisiert, dass immer mal wieder Kinder ins Klassenzimmer kommen. Schüler können in der ersten Stunde Fragen an den Lehrer stellen, Hausaufgaben können individuell besprochen werden. Man darf natürlich keine Klassenarbeit in der ersten Stunde schreiben.

Wie können die Menschen, die keine Gleitzeit haben, besser mit Uhrumstellungen umgehen? Weniger Termine ausmachen?
Geißler: Ich mache sowieso nur einen Termin am Tag. Das reicht. Und ich rate dazu, keine Zeitpunkt-, sondern eine Zeitraum-Organisation zu machen. Verabredungen mache ich immer elastisch.

Kommen Sie dann meistens zu früh?
Geißler: Ich habe eine Tendenz zum Zufrühkommen. Aber ich habe kein Problem mit dem Warten. Ich schaue mich dann um, beobachte die Menschen.

Seit wann leben Sie schon ohne Uhr?
Geißler: Ich lebe mein ganzes Leben ohne Uhr. Also ich lebe ja nicht ohne Uhr, ich trage nur keine, und lasse meine Zeit nicht von der Uhr organisieren.

Wie kann man sich denn unabhängig von der Uhr machen?
Geißler: Nach festen Abläufen leben. Ich mache zu bestimmten Zeiten immer dasselbe. Ich stehe jeden Tag etwa zur gleichen Zeit auf, frühstücke, lese die Zeitung – das kann mal länger und mal kürzer dauern – je nachdem, wie interessant die Berichte sind. Dann mache ich mir einen Espresso, und danach gehe ich an den Computer und arbeite. Jeden Tag der gleiche Ablauf. Dazu brauche ich keine Uhrzeit.

Das ist ja beneidenswert, wie Sie weitgehend ohne Uhrzeit leben können.
Geißler: Naja, für jemanden, der viel erleben will, ist das kein schönes Leben. Ich führe kein aufregendes Leben. Aber ich hatte auch nie das Bedürfnis, viel Action zu haben.

Hängt diese Lebenseinstellung mit Ihrer Kinderlähmung zusammen?
Geißler: Aufgrund der Kinderlähmung kann ich nicht beschleunigen. Ich bin gezwungen, langsamer zu leben. Ich kann auf viel verzichten im Leben. Andere können das nicht, darunter auch einer meiner Söhne. Diese Menschen müssen ganz viel in die Zeit hineinpacken.

Aber davon ist fast niemand befreit, weder ein Schüler noch ein Top-Manager.
Geißler: Wir leben in einer Zeit, in der Geld mit Verdichtung verdient wird. Das bringt uns Wohlstand, und da muss jeder mitmachen.

Außer Rentner und Pensionäre. Oder etwa nicht?
Geißler: Der Deutsche neigt dazu, wenn er zeitlich flexibel ist, sich einen Wecker zu kaufen, damit er nicht flexibel ist. Mein Tipp: Mit der Verrentung den Wecker wegwerfen.

 

Info

Der 29. Oktober 2017 dauert 25 Stunden. Um 3 Uhr werden die Uhren eine Stunde zurückgestellt. Züge müssen eine Stunde lang stehen bleiben. Es ist der Übergang von der Sommer- zur Winterzeit beziehungsweise zur Normalzeit. Auf der Weltuhr heißt es statt mitteleuropäische Sommerzeit wieder mitteleuropäische Zeit (MEZ).

Erstmals wurden am 10. April 1916 in Deutschland die Uhren um eine Stunde vorgestellt. Im Ersten Weltkrieg erhoffte man sich durch die zusätzliche Stunde Helligkeit am Abend Energieeinsparungen. 1919 wurde die Sommerzeit wieder abgeschafft. 1940, im Zweiten Weltkrieg, wurde die Uhrumstellung aus dem selben Grund wieder eingeführt. Diese Episode endete mit dem Kriegsende. Die Alliierten stellten wieder auf MEZ um.

1980 wurde in Deutschland, als verspätete Reaktion auf die Ölkrise, die Sommerzeit reaktiviert. Dieses Mal blieb es dabei. Seit 1996 gibt es sie einheitlich in der Europäischen Union. Forderungen, sie abzuschaffen, hat die Europäische Kommission zurückgewiesen.

 

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