Anstatt To-do-Listen abzuhaken, sollten wir uns im Job wieder auf unsere Kernaufgaben fokussieren, fordert der Zeitforscher Jonas Geißler. Wie Architektur dabei helfen kann — und warum Chefs ihr Handy am Wochenende auch mal abschalten sollten.

 

Link zum Interview auf der Seite des TÜV Süd

 

Herr Geißler,  wie viel Zeit haben wir für dieses Interview?
Eine halbe Stunde. Dann bin ich mit einem Geschäftspartner zum Spaziergang verabredet. Heute Nachmittag kommt meine jüngste Tochter in den Kindergarten. Das ist der letzte Termin für den Tag.

Ein Arbeitstag, wie ihn sich viele Angestellte nur erträumen. 
Das stimmt. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass ich als selbstständiger Berater genauso oft stressigere Phasen habe. Verglichen mit dem Alltag in den meisten Büros kann ich mit meiner Zeit aber schon viel selbstbestimmter umgehen.

Viele Angestellte haben das Gefühl, nur noch von Termin zu Termin zu hetzen und kaum noch Zeit für ihre eigentliche Arbeit zu haben. Woran liegt das?
Wir leben heute in einer extrem beschleunigten Welt. Und in einer Gesellschaft, die Zeitmangel und Stress belohnt. Wer im Unternehmen mal für ein paar Minuten zum Nachdenken die Beine hochlegt, wird sofort verdächtig beäugt. Wer dagegen permanent in Zeitnot ist und das auch ständig kommuniziert, gilt als hoch motiviert und leidenschaftlich bei der Sache.

Ein Unternehmen bezahlt seine Mitarbeiter nun einmal dafür, ihre Aufgaben zu erledigen.
Klar, aber diese Hyperbeschäftigung führt dazu, dass man abends Tausende kleine Häkchen hinter Mini-Aufgaben setzt, unzählige E-Mails beantwortet hat — und trotzdem nicht weiß, was man eigentlich den ganzen Tag gemacht hat. In der Fachwelt nennen wir dieses Phänomen den rasenden Stillstand. Das System beschäftigt sich selbst. Betriebswirtschaftlich effizient ist das nicht.

Wie geht es besser?
Auf gesellschaftlicher Ebene gibt es keine einfache Antwort. Dafür ist in unserer Kultur viel zu fest eingeschrieben, dass Zeit immer Geld bedeutet. Wir haben vor einigen Hundert Jahren angefangen, Zeit in Geld zu verrechnen. Dadurch ist jede Menge Wohlstand entstanden. Allerdings ging das auf Kosten der freien Zeit. Wahrer Luxus ist heute nicht mehr bloßer materieller Wohlstand, sondern Wohlstand gepaart mit verfügbarer Zeit.

Und in Unternehmen?
Da gibt es durchaus Möglichkeiten. Prinzipiell geht es darum, Zeitinseln zu schaffen, mit denen die Mitarbeiter den rasenden Stillstand durchbrechen können. Das funktioniert zum Beispiel mit abgetrennten Räumlichkeiten, in denen man sich vom Tagesgeschäft abkapseln kann, um mal in Ruhe eine Kalkulation zu erstellen, ein wichtiges Gespräch zu führen oder einen Text zu schreiben.

In der Praxis stoßen solche Konzepte oft auf wenig Gegenliebe bei den Angestellten.
Ja, weil sie nicht selten als Tarnung für Rationalisierungsstrategien missbraucht oder bloß halbherzig umgesetzt werden. Dann entstehen natürlich keine Orte, die Mitarbeiter gern aufsuchen und auch keine Inseln der Konzentration.

Und wenn das Konzept ernsthaft umgesetzt wird und funktioniert, ist plötzlich kaum noch ein Mitarbeiter zu erreichen?
Das Ganze funktioniert natürlich nur, wenn es von weiteren Maßnahmen flankiert wird. Ich kenne zum Beispiel Unternehmen, in denen einige Abteilungen ihre E-Mails nur noch drei Mal am Tag abrufen. Das funktioniert einwandfrei. Man muss sich bloß von dem Gedanken befreien, dass eine E-Mail sofort beantwortet werden muss. Diese Erwartung gilt es zu verlernen.

Vielen Kunden dürfte genau das ziemlich wichtig sein.
Mag sein, aber auch dafür gibt es Lösungen. Zum Beispiel eine Art Schichtdienst mit Leuten, die sich sofort und jederzeit um Kundenanfragen kümmern. Außerdem sage ich ja auch nicht, dass es die Königslösung ist, nur noch drei Mal am Tag E-Mails abzurufen. Am Ende braucht jedes Unternehmen eine passende Lösung. Mein Tipp an dieser Stelle wäre: Nehmt euch Zeit für die Zeit und entwickelt passenden Lösungen. Verändert Muster und Routinen. Seid mutig und probiert aus, was funktioniert und was nicht. Ein iteratives Vorgehen mit kleinen Prototypen ist oft hilfreicher, als der Anspruch, gleich den großen Hebel umzulegen.

 

„Unternehmen, die Freiräume schaffen, steigern in der Regel ihre Produktivität“

 

Die Angst vor Produktivitätseinbußen bleibt.
Diese Sorge höre ich bei fast jedem meiner Workshops. Meine Erfahrung spricht aber eindeutig gegen sie. Vielmehr trifft das Gegenteil zu. Unternehmen, die Freiräume schaffen, steigern in der Regel ihre Produktivität. Es gibt unzählige Abteilungen, in denen riesige Produktivitätspotenziale schlummern, die aber aufgrund der viel zu voll getakteten Kalender und der ständigen Unterbrechnungen nicht abgerufen werden können. Stattdessen wird sich Tag für Tag mit dem üblichen Kleinkram beschäftigt. Das ist aus meiner Sicht ein unternehmerisches Risiko und schlecht für die Zukunftsfähigkeit einer Organisation. Das Zukunftsinstitut hat das in einem Bericht mal provokant so formuliert: „Der wichtigste Indikator, ob eine Organisation sich wandeln und zukunftssicher aufstellen kann ist die Menge an unverplanter Zeit in den Kalendern der Führungskräfte.“

Wie schafft man den Umbruch?
Das geht sicher nicht von heute auf morgen – aber es geht. Für den Umbruch gebe ich  gerne den Hinweis, sich Zeit für die Zeit zu nehmen und sie zum Gegenstand der eigenen Beobachtung und Kommunikation zu machen. Es geht darum festzustellen, was im Umgang mit Zeit gut läuft – das ist meistens mehr, als wir annehmen – und wo konkret es hakt. Darauf hin kann man Prototypen für passende Veränderungen entwicklen und sie  auf ihre Praxistauglichkeit testen. Wichtig ist, von Anfang an einzukalkulieren, dass nicht gleich alles auf Anhieb klappen und es Rückschläge und Überraschungen geben wird. Diese Erfahrungen kann man in die nächste Version des Prototypen einbauen. Man sollte kleine Schritte machen und kleine Erfolgen feiern. Das geht nicht ohne Aufwand, aber es lohnt sich – für mehr Wirksamkeit und Zufriedenheit im Umgang mit Zeit.

Die meisten Unternehmen haben Workshops für Zeitmanagement längst im Programm.
Und genau diese Workshops sind viel zu oft Teil des Problems. Da geht es meistens  nur darum, wie man seine unzähligen Meetings, Calls und Jour fixes einigermaßen ordentlich organisiert. Ganz so, als ob allein penible Ordnung das Problem zeitlicher Überforderung auflösen könnte. Das ist aber natürlich ein Trugschluss.

Warum?
Weil die Zahl der Termine dadurch kein Stück kleiner wird. Viel wichtiger wäre, sich darüber Gedanken zu machen, wie man seine Zeit als Team besser nutzen kann.

Das heißt konkret?
Neben den schon erwähnten Raumkonzepten, Konzentrationsübungen und einem generellen Kulturwandel kommt es vor allem auf die einzelnen Teams und Abteilungen eines Unternehmens an. Was im Vertrieb bei einem kleinen Mittelständler funktioniert, kann zum Beispiel für das Marketingteam in einem Konzern nach hinten losgehen. Der Teufel liegt im Detail. Da hilft es nur, sich als Team zusammenzusetzen und zu überlegen, wie man sich seine eigenen Zeitinseln schaffen kann. Manchmal helfen spezielle Räume. Manchmal können feste Zeitspannen für Meetings weiterhelfen.

Klingt anstrengend.
Natürlich ist das mit Aufwand verbunden, und der Blick auf sich selbst kann manchmal auch anstrengend sein, denn man muss die Ideen nicht nur besprechen, sondern auch ausprobieren, evaluieren, noch mal neu überlegen und so Schritt für Schritt den eigenen Weg finden.

Welche Rolle spielen die Vorgesetzten dabei?
Eine ziemlich große. Hierarchien haben die Funktion Komplexität zu reduzieren, indem sie  klar definieren, wer zum Beispiel am Ende entscheidet – nämlich der Chef. Also entscheidet der auch in Zeitfragen, vor allem dann, wenn Veränderungen anstehen. Dabei kommt es auch darauf an, dass die Vorgesetzten ihre eigenen Maximen auch vorleben. Wer als Chef über Zeitinseln predigt, aber selber Samstags um 23 Uhr noch Mails verschickt, wird schwer einen Kulturwandel im Unternehmen vorantreiben können, weil er oder sie gar nicht in der Hand hat, wie die anderen auf seine Nachtmails reagieren. Unternehmenskultur ist zu großen Teilen ein Selbstorganisationsphänomen und nur begrenzt beeinflussbar. Die Paradoxie von Führung ist es, etwas zu gestalten, dass sich eben nicht im Sinne einer Ursache-Wirkungs-Beziehung gestalten lässt: unsere zwischenmenschliche Interaktion.