Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik, Zeitpolitisches Magazin No 37, Dezember 2020

 

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„Altersbilder“, so nennen wir dynamische, häufig bildliche Vorstellungen vom Alter und dem Umgang mit Älteren, sind kulturspezifische Konstruktionen. Sie werden von Menschen entworfen und wirken auf sie zurück. Menschen produzieren Altersbilder und sind zugleich ihre Schöpfung.

Ein Ereignis pandemischen Ausmaßes, wie die Corona- Epidemie, die das Vertrauen in das Weiter-so des Alltägli- chen erschüttert und den Ausnahmezustand zur Normalität macht, rüttelt nicht nur an den traditionellen Zeitgebern un- seres Alltags, sondern auch an den Gewohnheiten und Be- wertungen, mit denen wir aufs Alter, aufs Älterwerden und unseren Umgang mit der Rollatoren-Generation blicken. Das Corona-Drama hat das „Weiter-so“ des Alltäglichen und die gewohnte Sicht aufs Alter und die Älteren, wie sie uns geläufig waren, blitzartig außer Kraft gesetzt. Das Lungen- virus, das uns mit den Grenzen unserer Verfügbarkeitsan- sprüche konfrontiert und uns zur Stubenhockerei verurteilt, verändert die Gesellschaft, dominiert die Politik, schockt die Wirtschaft und sediert die Kultur. Es irritiert unsere ver- traute Art des Arbeitens, unsere gängige Art des Lernens, des Spielens, des Einkaufens, des Essens sowie des Vergnü- gens und schließlich auch des Älterwerdens. Als die Pande- mie, die wir „Coronakrise“ nennen, ihren Anfang nahm, war die Hoffnung noch groß, sie würde in der Bevölkerung zu mehr Solidarität führen und das soziale Verantwortungsge- fühl vor allem für die Generation der Älteren stärken. Heute wissen wir, dass es bei Hoffnungen geblieben ist.

Wie auch immer der Corona-Test ausfällt, in Zeiten der Pandemie leben ältere Menschen in Angst, in ständiger Ver- ängstigung. Verunsichernder als die Furcht vor dem Virus ist die, der Gesellschaft zur Last zu fallen. Angst und Un- sicherheit lassen nicht mehr zu, was Hans Castorp währendseines siebenjährigen Aufenthalts auf dem Berghof gegönnt war, sein Alter zu vergessen. Die Angst vor der Ansteckung isoliert, macht einsam, vor allem diejenigen, die nicht ge- lernt haben, mediengestützte Distanzgemeinschaften zu bilden und zu pflegen. Zugleich ändert sich die Sicht auf die Lebensphase „Alter“ und es ändert sich die Vorstellung vom Vorgang und Verlauf des Alterns.

Traditionelle Altersbilder kombinieren, integrieren und balancieren Chancen und Risiken, Gewinne und Verluste, Schwächen und Stärken des Älterwerdens. Diese produkti- ven Gegensätze geraten durch das so plötzliche wie unerwar- tete Auftauchen des unkalkulierbaren Virus aus dem Gleich- gewicht. Dazu tragen die Statistiker bei, die die Generation der Älteren zur Risikogruppe erklären, da sie eine deutliche Korrelation zwischen Todesfällen im Zusammenhang mit ei- ner COVID-19 Erkrankung und dem Alter errechnet haben. Die zweifelsohne auch von fürsorglichen Motiven begleitete Zuschreibung älterer Menschen als Risikogruppe hat eine problematische Seite. Sie begünstigt die Diskriminierung des Alters, da sie einerseits das Geflecht der sonstigen Deutungen und Wertungen des Alters übertönt, und zum anderen die äl- teren Menschen in den Zustand der Dauerangst versetzt. Das Alter wird, in der Außen- wie auch in der Selbstzuschreibung, zu einer Art Ausnahmezustand, den es zu managen gilt.

Der Lebensabschnitt Alter, den man sich bisher als einen von Verpflichtungen freien verlängerten Resturlaub vorgestellt hat, wird von Strategien des Managements erobert. Spätes- tens dann verflüchtigen sich die wenigen Freiheiten, die das Altern mit sich bringt. An ihre Stelle treten umfangreiche Anstrengungen, beim Älterwerden jung zu bleiben. Sie zie- len vor allem darauf, die sichtbaren Boten der menschlichen Endlichkeit zu vertuschen, zu überdecken und zu verschleiern. Vorbei die Zeiten, frei von Leistungsdruck und dem Nachweis fortwährender Tüchtigkeit souverän entscheiden zu können, im Alter fern ab aller Belästigung durch Zeit- ist Geld-Diktate auf gemütliche Art zu „vertrotteln“. Die Mischung aus Altersverachtung, Jungbrunnenträumen und Profitinteressen, die sich „Anti-Aging“ nennt, versperrt den Zugang zur Einsicht, die Endlichkeit des Lebens ebenso als Schicksal zu akzeptieren, wie die Tatsache, dass die Sonne nicht den ganzen Tag scheint und die Bäume im Herbst ihre Blätter verlieren. Die Begriffsakrobatik, die aus alten Men- schen Senioren, Best Ager oder Silver Surfer macht, führt, wenn sie auf die Realität trifft, unweigerlich zur Erkenntnis, in die falsche Richtung zu leben. Der Zeitpfeil des menschli- chen Lebens aber ist unumkehrbar.

Zwar ist es nicht nur das Virus, das die Ikonographie des Le- benslaufs ändert, aber es beschleunigt die Veränderung des Bildes, das wir uns vom Alter machen, gravierend. Von der vormodernen Vorstellung des Lebenslaufs als Rad und der modernen als Lebensalter-Treppe wandelt sich das Bild vom Lebenslauf am Auslaufen des Industriezeitalters zur Zick- Zack-Linie. Ältere Menschen werden, auch weil die Zeit-ist- Geld-Mentalität ihre ökonomische Heimat längst verlassen und, wie der Knöterich den Balkon, sämtliche Lebenswelten erobert und überwuchert hat, zur Zielgruppe ökonomischer Begehrlichkeiten – und sich dabei selbst immer mehr zum Rätsel. Die Lebenslaufvorstellung des 19. Jahrhunderts, die davon ausging, man könne das Dasein nach dem Vorbild ei- ner „Wäscheleine“ organisieren, die der kulturellen Konst- ruktion „Altersbild“ Kontur und Wert verlieh, verabschiedet sich mit der Industriegesellschaft, vor allem aber neuerdings durch die Dramatiken, die vom Virus ausgelöst werden.

Die im sechsten Altenbericht der Bundesregierung präsen- tierten Altersbilder mit ihren Vorstellungen von Gesund- heit und Krankheit, Stärken und Schwächen, Selbständig- keit und Abhängigkeit, werden vom Virus auf das Alter hin als Hochrisiko-Phase zentriert. Fragen und Entscheidun- gen, die kürzlich noch die Agenda bestimmten, rutschen an deren Ende: Künstliche Hüfte, Implantate, Kreuzfahrt, ja oder nein, sogleich oder doch später? Jetzt geht’s ums Gan- ze, nicht mehr um Ruhe- oder Unruhestand, aktives oder passives Alter, jetzt geht‘s ums Leben und ums Überleben.

Nicht nur das Altersbild der Moderne altert und verliert heute an orientierender Kraft, auch die „kulturelle Kon- struktion“ (Borscheid) Altersbild selbst nimmt in einer Ge- sellschaft, in der immer schneller immer mehr „von gestern“ wird, an gestaltendem Potenzial ab. Stabile, sichere und verlässliche Altersmuster setzen nämlich langfristig stabile Gesellschaften und dauerhaft verbindliche Kulturen voraus. Ein Fundament, das von einer durch die Tyrannei des Kurz- fristhandelns getriebenen digitalisierten Umgebung, auf die unsere Gesellschaft zusteuert, nicht mehr bereitgestellt wird.

Wird das Älterwerden vor allem mit der Zunahme von Ri- siken assoziiert, dann dominieren in den Bildern vom Alter und Altersvorstellungen die Gefahren des Älterwerdens, die gesundheitlichen Einbußen, die reduzierte Abwehr und die erhöhte Schutzbedürftigkeit. Das erschwert die gesell- schaftliche Integration und die Solidarität der Generation der Jüngeren mit der der Älteren. Zumal die Kolonialisie- rung aller Lebensphasen, vor allem aber der des Alters, durch Zeit-ist-Geld-Imperative auf die Frage zuläuft: „Lohnt sich das (noch)?“ Diese Frage stellte, begleitet von einem Aufschrei öffentlicher Empörung, der Vizegouverneur von Texas/USA Dan Patrick. Er forderte eine öffentliche Dis- kussion, ob ältere Bürger nicht geopfert werden sollten, um die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt nach dem Corona-Ein- bruch wieder auf Touren zu bringen. Der Deutsche Ethikrat hat mit dem Hinweis darauf reagiert, dass auch eine Gesell- schaft, die Geld zur Wertform der Zeit erklärt, keine medi- zinischen Entscheidungen über die Verweigerung einer Be- handlung dulden darf, die auf dem Kriterium „Lebensalter“ beruht, und dass das Handeln im Gesundheitssystem nicht von wettbewerbsorientierten wirtschaftlichen Maßstäben bestimmt werden dürfe.

Das Leben hat einen Wert und nur dort, wo die Marktlo- gik das Zeithandeln bestimmt, hat es einen Preis. Der Wert des Lebens lässt, im Gegensatz zu einem bepreisten Leben, keinen Unterschied zwischen den Menschen und schon gar nicht zwischen den Generationen bzw. Altersgruppen zu. Auch weil das Leben, nicht nur im Alter, aber auch im Alter, kein Produkt ist, das sich machen oder herstellen lässt. Es ist diskriminierend, alte Menschen wie Maschinen zu be- handeln, deren Alterung im Steuerrecht als Wertminderung geltend gemacht werden kann.

Dort, wo der Wert des Lebens durch dessen Preis ersetzt wird, und das ist da der Fall, wo die Frage gestellt wird, ob sich lebenserhaltende Maßnahmen bei älteren Menschen noch lohnen, müssen diese damit rechnen, als „zweitrangig“ klassifiziert zu werden. Das ist inhuman und weckt Zweifel, ob der Mensch jenes „vernünftige“ Wesen ist, zu dem er in Schulbüchern erklärt wird. Es spaltet und desintegriert die Gesellschaft. Prominente aus Politik, Gesellschaft, Kirche und Wissenschaft haben deshalb in einem Appell dazu auf- gerufen, das Leben Älterer im Zusammenhang mit den Pro- blemen mit dem Coronavirus nicht abzuwerten. „Der Wert des Lebens muss gleich für alle bleiben,“ heißt es in dem Aufruf, der in den auflagenstärksten Zeitungen erschien. Dafür gilt es, sich zu engagieren.

 

Karlheinz Geißler, 2020