Münchner Merkur, 28./29.03.2020, Interview: Nina Praun

 

Morgen wird die Uhr umgestellt, auf Sommerzeit, eine Stunde „verlieren“ wir dabei. Doch dieses Jahr wird uns das nicht so sehr aus der Bahn werfen wie die Jahre davor – weil die Uhrzeit in der Corona-Krise keine so große Rolle mehr spielt, sagt Karlheinz Geißler. Er ist Universitäts- professor für Wirtschaftspädagogik und Zeitforscher. Im Interview verrät er den Unterschied zwischen Zeitrhythmus und Uhrzeit – und wie jeder sein Tempo findet.

Herr Geißler, seit wann bestimmen die Uhren unser Leben?
Seit etwa 600 Jahren bestimmen mechanische Uhren unser Leben. Sanduhren und Sonnenuhren haben das schon vorher gemacht, aber das sind Naturuhren; die mechanischen Uhren ignorieren dagegen die Natur.

Ist das gut oder schlecht?
Nun, die mechanischen Uhren haben uns materiellen Wohlstand gebracht. Aber sie haben uns auch unter Zeitnot gesetzt und von der Natur getrennt. Unsere Zeit organisieren wir immer nach der Uhr – wir könnten die Zeit aber auch nach der Natur organisieren. Wenn wir etwa abends müde werden und dann ins Bett gehen und schlafen, dann entscheiden wir über unsere Schlafenszeit nach unserer eigenen Natur.

Wenn ich aber jeden Tag um zehn Uhr ins Bett gehe, dann ist das nicht Natur?
Nein. Sie sind nie jeden Tag pünktlich um zehn Uhr müde.

Warum machen wir das dann?
In unserer Kultur ist die Zeit immer die Uhrzeit – das wird uns von klein auf beigebracht. Dabei hat der Mensch gar keinen Zeitsinn. Schon in der Schule ist das Erste, was die Kinder lernen, die Uhrzeit. Die Kinder können nicht in die Schule gehen, wenn sie Lust haben oder lernfähig sind, sondern: Sie müssen Punkt acht in der Schule sein.

Wenn wir keinen „Zeitsinn“ haben, wie kann es dann sein, dass ich am Morgen auch ohne Wecker gegen halb acht aufwache?
Wir haben keine „innere Uhr“, nur eine Art Zeitrhythmus, der ist nicht so mechanisch wie die Uhrzeit. Wenn ich selbst aufwache, ist es Na- turzeit, wenn mich der Wecker weckt, ist es Uhrzeit.

Vermutlich stehen aber die meisten von uns mit dem Wecker auf?
Ja, etwa 80 Prozent. Wir sind fremdbestimmt von der Uhrzeit. Sonst wollen wir immer selbst bestimmen, aber eigentlich entscheidet die Uhr über unser Leben.

Aber das hat ja auch was Praktisches, wenn man einen Termin ausmacht und alle halten sich daran.
Ja, natürlich hat das was Praktisches, sonst hätten wir das ja nicht gemacht! Wir haben so gelernt, Zeit mit Geld zu verrechnen, die Vorteile sind
der Geld- und Güterwohlstand: Wir werden reicher, gesünder und leben länger.

Das ist ja perfekt, dann müssen wir ja gar nichts ändern!
Nun, ich glaube, die Frage ist, ob  uns  das  auch  zufrieden macht. Denn der Mensch lebt nur dann zufrieden und gesund, wenn er sein eigenes Tempo lebt. Und sein eigenes Tempo ist eben nicht immer nur „schnell“ wie die Uhr. Ich habe den Verdacht, dass die Uhrzeit uns nicht unbedingt zufriedener macht – sondern gehetzter.

So wie die Umstellung auf die Sommerzeit uns auch jedes Jahr wieder gehetter macht?
Letztes Jahr war das ein großes Thema, aber dieses Jahr wird das kein großes Problem sein, weil die Uhrzeit gerade keine so große Rolle mehr spielt. Das Virus bestimmt jetzt die Zeit – nicht die Uhr.

Ist das nun also ein guter Moment, sich mal mit dem Thema Zeit zu befassen?
Unbedingt. Ich sehe, dass die-se Gesellschaft sich nun mit einigen Fragen beschäftigen muss: Was  passiert, wenn nicht alles schnell funktio- niert? Wie produktiv ist Langsamkeit, wie produktiv sind Pausen? Ich muss Geduld lernen, ich muss warten lernen, ich muss pausieren lernen. Und ich merke, dass ich das alles verlernt habe.

Dann ist die Corona-Krise auch eine Chance?
Ja. Es ist eine erzwungene Chance. Wir können jetzt da-rüber nachdenken, was ei-nem guttut und wie man eigentlich leben möchte, das sind die grundsätzlichen Fragen, auf die wir jetzt zurückgestoßen werden. Denn wir haben immer gedacht, das Leben fängt später an. Und jetzt merken wir plötzlich: Das Leben ist jetzt.