Terminkalender und Zeitmanagement genauso wie Flugzeug, Laptop und Waschmaschine – es gibt unzählige Mittel und Methoden, Zeit zu sparen. Doch unsere Zeit wird nicht mehr, wenn wir effizienter werden. Wir sollten unsere Zeit leben, statt sie mit Aufgaben zu füllen.
TEXT: Angelika Friedl
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Schnell noch diese E-Mail beantworten, gleich steht das nächste Meeting an, und heute muss ich wegen eines Arzttermins früher Schluss machen. Dann kann ich aber um fünf Uhr Elisa nicht zum Klavierunterricht fahren. Und heute Abend sollte ich endlich mit meinen Eltern telefonieren. Der Literaturkreis muss leider wieder ausfallen. Wo, um Himmels willen, wo ist die Zeit geblieben?
Wenn Sie solche Szenarien kennen, leiden Sie – wie viele andere Menschen – an Zeitarmut. Davon ist nicht nur die „gehetzte Generation“ betroffen, auch Rentner und Rentnerinnen klagen über zu viele Termine. Das Bedürfnis, wieder mehr Zeit zu haben, ist offenbar groß. Wenn man „Zeitmanagement“ bei Google eingibt, spuckt die Suchmaschine unglaubliche 8.400.000 Ergebnissen aus. Der Begriff wird auffällig oft mit Produktivität gleichgesetzt. Das Versprechen lautet: Wer seine Zeit gut managt, fördert seine Karriere und kann Ziele leichter erreichen.
Zu hohe Erwartungen
Doch dieser Kampf ist zum Scheitern verurteilt, sagt Jonas Geißler, Organisationsberater und Gründer von timesandmore, einem Institut für Zeitberatung. In den meisten Kursen und Ratgebern werde nämlich versucht, die Zeitprobleme mit Hilfe der Uhr in den Griff zu bekommen. Das sei, als ob man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben wollte. Schließlich werde die ganze Misere ja erst durch die „Uhrzeit“ verursacht. „Zeit ist überhaupt nicht knapp“, sagt Jonas Geißler. „Der Eindruck der Zeitknappheit entsteht dadurch, dass wir uns durch zu viele Erwartungen, die häufig Enttäuschungen produzieren, völlig überfordern.“
»Zeitknappheit entsteht dadurch, dass wir uns durch zu viele Erwartungen völlig überfordern.«
So einfach ist das: Die Zeit ist da und wir können sie leben. Ansonsten können wir mit der Zeit gar nichts machen. In den Seminaren von Jonas Geißler klären die Teilnehmenden für sich, was realistische Erwartungen sind, welche völlig aus der Luft gegriffen und welche überzogen sind. „Manche wollen gelassener sein und sich nicht mehr gehetzt fühlen. Andere wollen innovativer oder nachhaltiger werden“, sagt Geißler. „Die Leute sollen bewusstere Zeitentscheidungen treffen und abends nicht mehr mit Schuldgefühlen ins Bett steigen. Man sollte für sich beantworten können, wann es reicht, wann es genug ist.“ Natürlich, betont Geißler, ließe sich Zeitstress nicht immer auf individueller Ebene lösen. Es brauche auch entlastende Strukturen, um Zeitgerechtigkeit und rhythmusgerechtes Leben zu unterstützen.
Nie effizient genug
Genug von Produktivitätsgurus hatte der britische Journalist und Autor Oliver Burkeman. Viele Jahre lang hing sein Alltag an To-do-Listen. Er testete sehr viele Zeitmanagementsysteme, bis ihm eines Tages klar wurde, dass sie alle nicht funktionieren können. „Es würde mir nie gelingen, genug Effizienz, Selbstdisziplin und Anstrengung aufzubringen, um das Gefühl zu erzwingen, alles im Griff zu haben, all meinen Verpflichtungen nachzukommen und mir keine Sorgen um die Zukunft machen zu müssen“, schreibt er in seinem Buch 4000 Wochen.
4000 Wochen – so lange leben wir, wenn wir 80 Jahren alt werden, hat Burkeman ausgerechnet. In dieser knappen Zeit sollten wir möglichst nicht zu oft das Gefühl haben, dass das Leben wie im Flug an uns vorbeirauscht. Schließlich geht es um kostbare Lebenszeit. „Wenn man am Ende des Lebens zurückblickt, ist das, was von Augenblick zu Augenblick die Aufmerksamkeit erregt, schlichtweg das, was das Leben ausgemacht haben wird. Wenn man seine Aufmerksamkeit auf etwas richtet, das man nicht besonders schätzt, bezahlt man also buchstäblich mit seinem Leben“, betont Burkeman.
Man braucht daher, so seine Schlussfolgerung, ein bisschen Hingabe für das, was man tut. Dann bin ich auch in der Lage, bewusst eine Entscheidung für eine Tätigkeit zu treffen. Im Gegensatz dazu hat es eine zerstreute Person schwer, sich überhaupt zu entscheiden. Sie jagt dem Klingeln einer eingehenden Textnachricht genauso hinterher wie dem nächsten Punkt auf ihrer Arbeitsliste.
Oliver Burkeman plädiert genau wie Jonas Geißler dafür, die eigene Begrenztheit zu akzeptieren. Wir müssen entscheiden, auf welche Aufgaben wir uns konzentrieren und welche wir vernachlässigen. Auch wenn das – zumindest kurzfristig – das unangenehme Gefühl hervorruft, unproduktiv zu sein. „Es gibt dieses wunderschöne Konfuzius-Zitat: ‚Wir haben zwei Leben. Das zweite beginnt, sobald wir realisieren, dass wir nur eines haben‘“, sagt Jonas Geißler. „Wir können einfach nicht zwei Leben in einem leben. Die Begrenztheit des eigenen Lebens schafft einen ganz anderen Umgang mit Zeit, als wenn ich mir vormache, ich würde ewig leben“.
Uhrzeit = Zeit?
Vor der Erfindung der Uhr lebten die Menschen im Rhythmus von Tages- und Jahreszeiten. Sie hätten sich nicht für Zeit interessiert, argumentieren Jonas Geißler, sein Vater Karlheinz Geißler und der Astrophysiker und Fernsehmoderator Harald Lesch in einem Aufsatz für die Zeitschrift „Managerseminare“. Die Zeit sei für die Menschen lange identisch mit dem Wetter gewesen. Das zeige sich heute noch in den romanischen Sprachen, in denen die Wörter temps, tiempo, tempo sowohl Zeit als auch Wetter bedeuten.
Als die mechanische Uhr erfunden wurde, änderte sich das langsam. Seitdem denken wir, dass die Uhr die Zeit anzeigt. „Tatsächlich gibt es aber unendlich viele Zeiten. So hat jedes natürliche System seine eigenen Zeitzyklen, in denen es etwa wächst, regeneriert oder sich ausbalanciert“, so die Autoren.
Mit der Industrialisierung und der Digitalisierung verschärften sich unsere „Zeitprobleme“. Ein gutes Beispiel ist der Ausdruck „Zeit ist Geld“, das Leitmotiv einer Gesellschaft, die nach immer mehr Wachstum strebt. Diese Einstellung hat schwerwiegende Folgen, meinen die drei Autoren. „Sie bringt uns dazu, Dinge immer schneller und immer mehr Dinge gleichzeitig zu erledigen, um wertvolle Zeit zu sparen. Anders als Geld lässt sich Zeit jedoch nicht sparen, denn Zeit ist immer nur jetzt.“ Wir könnten Zeit nur mit Leben vergleichen, nicht mit Geld. Somit führe immer mehr Aktivität nicht zu Zeitgewinnen, sondern bedeute sogar eine Verschwendung von Zeit: „Denn je dichter wir unsere Zeit befüllen, desto weniger erleben wir sie.“
Was ist wichtig?
Oliver Burkeman hat am Schluss seines Buches eine kleine Liste von Punkten zusammengestellt, die helfen soll, seine Zeit in bewusster Weise zu strukturieren. So wäre es zum Beispiel gut, schon im Voraus zu entscheiden, bei welchen Projekten man scheitern will. Dann ärgert man sich am Endes des Tages nicht, wenn man beispielsweise nicht aufgeräumt und auch keine Gartenerde gekauft hat. Statt To-do-Listen sollten wir besser eine Erledigt-Liste führen, die am Morgen erstmal keine Einträge hat. In die Liste kann man nach und nach alles eintragen, was während des Tages erledigt wird. So lassen sich kleine „Erfolge“ feiern. Vielleicht steht aber auch nur ein Punkt auf der Liste oder sie bleibt ganz leer.
In seinem letzten Tipp fordert uns Burkeman auf, uns im Nichtstun zu üben. Um wieder ein Gespür für den Augenblick und für die Zeiten, die uns guttun, zu bekommen. Jonas Geißler nennt solche Zeiten Ressourcenzeit. „Und die sollten wir kennen und schützen. Ein Blumenstrauß an gelebter Zeit, schnelle aber auch langsame, Pausen- und Wartezeiten. Und Zeiten des Trödelns, des Besinnens und des Sinnierens. Es geht darum, wieder ein Selbstbewusstsein dieser Zeitvielfalt zu entwickeln. Es gibt einen Übergang, um in den Tag hineinzukommen und dann feiere ich den Abschluss des Tages.“ Man sollte einfach mal Pause machen, sitzen und Langeweile spüren, meint Geißler. Das sei das „Tor zur Muße“.