Erschienen in Verlagsgruppe Bistumspresse

Stoppt die Diktatur der Uhr!

Viele Menschen klagen heute über Zeitmangel und fühlen sich gestresst. Wie kommt das?
Was können wir dagegen tun? Und wie können uns biblische Weisheiten dabei helfen, zu mehr Ruhe zu finden? Der Zeitforscher Karlheinz Geißler gibt Antworten.

 

Was macht eigentlich ein Zeitforscher?

Zunächst einmal geht er nicht forsch mit der Zeit um (lacht). Ein Zeitforscher sitzt gewissermaßen auf einer etwas erhöhten Position, wie ein Zuschauer auf der Tribüne, und beobachtet von dort, wie die Menschen mit der Zeit umgehen.

 

Wie kamen Sie dazu, sich mit Zeit zu beschäftigen?

Ich bin 1949, als ich fünf Jahre alt war, ein Opfer der letzten Pandemie vor Corona geworden. In einer Zeit, als es dagegen noch keinen Impfstoff gab, bin ich an Kinderlähmung erkrankt, war mehr als ein Jahr gelähmt und musste anschließend neu lernen, aufrecht zu gehen. Aber etwas von der Krankheit ist in meinen Beinen zurückgeblieben und seither hinke ich. Ich bin also zur Langsamkeit gezwungen. Und da ich nicht zu den Schnellsten gehöre, musste ich lernen, anders und damit auch bewusster mit meiner Zeit umzugehen.

 

Bitte nennen Sie ein Beispiel.

Wenn meine Mitschüler zum Bus rannten, konnte ich nur zuschauen. So habe ich gelernt, genug Zeit einzukalkulieren, immer einen Bus oder eine Bahn früher zu nehmen. Und da ich auch mehr Zeit zum Beobachten und Nachdenken hatte, habe ich mich irgendwann gefragt: Was kann ich, was die anderen nicht können?

 

Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Ich kann zum Beispiel sehr gut warten. Ich habe gelernt, mir Zeit zu nehmen, und kann die Dinge einfach mal auf mich zukommen lassen. Ich muss nicht so hetzen, wie das heute leider viele Menschen tun. Ich lasse mir von einer Uhr nicht mein Leben diktieren.

 

Sie tragen seit vielen Jahren keine Uhr. Wie orientieren Sie sich dann und halten Termine wie beispielsweise die Verabredung zu einem Interview ein?

Ich mache heute nicht mehr als einen Termin pro Tag aus und vereinbare dafür auch keinen festen Zeitpunkt, sondern einen Zeitraum. Ohne Uhr hat sich mein Zeitgefühl stark verbessert. Falls ich mir unsicher bin, frage ich Personen aus meiner Umgebung nach der Zeit. Auf die Uhr zu blicken, macht einsam. Daher spreche ich lieber mit Menschen. Das finde ich viel angenehmer. Uhren muss man nicht tragen, man sollte sie nur ertragen.

 

Was ist eigentlich Zeit?

Dazu bieten die unterschiedlichen Wissenschaften unterschiedliche Interpretationen an. Die Existenzphilosophie sagt, Zeit ist das Sein zum Tode, also das Werden und Vergehen. Die Ökonomen dagegen belehren uns, dass Zeit Geld sei. Das kann aber allein deswegen nicht stimmen, weil dann die Arbeitslosen die Reichsten wären.

 

Vom Prediger Salomon ist in der Bibel überliefert, dass alles seine Zeit hat. Was halten Sie von der Aussage?

Das ist einer der zentralen Sätze über die Zeit schlechthin. Wir werden in das Gästebuch der Zeit eingetragen und werden irgendwann wieder ausgetragen. Diese begrenzte Lebenszeit gilt es zu pflegen und zu genießen. Doch viele Menschen machen heute das Gegenteil. Sie verdichten Zeit immer mehr, stopfen immer mehr Tätigkeiten in eine bestimmte Zeit hinein. Gemäß dem Motto „Zeit ist Geld“ kämpfen sie sogar in ihrer Freizeit gegen alles Langsame und Bedächtige an, oft bis zur Erschöpfung. Dafür zahlt neben dem Menschen, der immer anfälliger wird für stressbedingte Krankheiten wie Herzinfarkte oder das Burn-out-Syndrom, auch die Natur einen hohen Preis.

 

Was genau meinen Sie damit?

Unsere Nonstop-Gesellschaft forciert die ökologische Krise. Die Rohstoffe, die die Natur in Jahrtausenden erzeugt hat, verbrauchen wir in immer kürzerer Zeit. Oder wir verbrennen sie wie das Öl und die Kohle und heizen damit den Klimawandel an. Wir fragen uns doch schon lange nicht mehr, wie lange die Natur braucht, um Rohstoffe bereitzustellen. Wir fragen nur noch: Wie viel Profit bringt das?

 

Die Bewahrung der Schöpfung ist ja längst Teil des kirchlichen Engagements. Auch steht die christliche Spiritualität eher für Entschleunigung. Allerdings heißt es auch, die erste Uhr sei in einem Kloster erfunden worden.

Das ist richtig. Die erste mechanische Uhr wurde, so legen es Überlieferungen nahe, am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit in einem Benediktinerkloster nördlich von Mailand erfunden. Das war eine Art Wecker, der den Mönchen helfen sollte, ihre Gebetszeiten in der Nacht einzuhalten, die sie sonst vielleicht verschlafen hätten. Schon bald darauf haben sich auch die Kaufleute in der Umgebung die neue Erfindung zunutze gemacht, um mit der Uhr ihren Handel zu präzisieren.

 

Welche Auswirkungen hatte das?

Vorher haben die Menschen geglaubt, Gott allein sei der Herrscher über die Zeit. Durch die Uhr haben die Menschen die Zeit in die eigene Hand genommen und bekamen so das Gefühl, sie selbst könnten die Zeit beherrschen. Zudem ist durch die Erfindung der Uhr der Kapitalismus entstanden. Denn rasch fügten die Kaufleute der Uhrzeit ein weiteres Kriterium hinzu: das Geld. Die ersten Banken wurden gegründet, weil man nun die verstreichende Uhrzeit in Zinsen umrechnen konnte. Zwar hat sich die Kirche anfänglich gegen diese Einteilung der Zeit in Stunden und Minuten gewehrt. Doch spätestens als der Vatikan selbst eine Bank gründete, gab sie den Widerstand auf.

 

Seit der Industrialisierung hat die von der Uhr gemessene Zeit einen schier unglaublichen Siegeszug angetreten und durchdringt sämtliche Lebensbereiche, wie wir an zahlreichen Wortkreationen wie Zeitung, Zeitgeist, Zeitarbeit, Zeitplan, Zeitvorgabe, Zeitsparen, Zeitmangel oder Zeitdruck erkennen können. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

 

Die Gleichung „time is money“, die Benjamin Franklin, einer der US-amerikanischen Gründerväter, bereits 1748 beschrieben hat, hat die Menschen von dem natürlichen Zeitmaß der Natur entkoppelt. Schauen Sie nur einmal in unsere Supermärkte, da gibt es in der Obst- und Gemüseabteilung keine Jahreszeiten mehr. Alles ist zu jeder Jahreszeit erhältlich. Die Wirtschaft muss wachsen. Geld kennt kein Genug. Aus Geld können Sie immer noch mehr Geld machen. Und weil die Ökonomie immer mit allem Geschäfte machen möchte, lehrt sie uns Menschen, am besten nie auf irgendetwas zu verzichten. Tendenziell werden wir zu einer Gesellschaft, die quasi rund um die Uhr aktiv ist, weil sie alle Tageszeiten wirtschaftlich nutzen will.

 

Auch an den Schulen gibt es Zeit- bezie- hungsweise Stundenpläne, aber da geht es um Bildung, nicht um Geld.

Doch auch dort werden die Menschen veruhrzeitlicht. Ihnen wird beigebracht, sich nicht an der Natur, sondern an der Uhr zu orientieren. Darüber hinaus gibt es in eini- gen Bundesländern das Abitur jetzt bereits nach dem zwölften Schuljahr. Studiengänge wurden verkürzt. Auch der Wehrdienst wurde abgeschafft, damit die Leute früher dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

 

Gibt es auch positive Aspekte der Zeitmessung?

Die Uhr gibt uns die Möglichkeit, Zeit kollektiv zu organisieren, damit wir uns zum Beispiel besser verabreden können. Die Uhr hilft uns somit, Gemeinschaftlichkeit her- zustellen.

 

Immer mehr Menschen klagen neuerdings über Freizeitstress. Woher rührt dieser Drang, unser Leben so vollzupacken?

Der geht klar von der Ökonomie aus. In vielen Kirchen gibt es bis heute innen keine Uhren, weil man die im Gottesdienst nicht braucht. Die Uhren außen an den Kirchen, zum Beispiel in den Kirchtürmen, sind verweltlicht. Sie wurden meist von den Kommunen angebracht.

 

Der Schriftsteller George Orwell hat b reits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beklagt: „Die Zeit vergeht nicht schneller als früher, aber wir laufen eiliger an ihr vorbei.“ Ist Zeitmangel wirklich ein modernes Phänomen?

Ja, die Zeit selbst hat sich nicht verändert. Auch die Uhren wurden nicht beschleunigt, dafür aber alles andere um uns herum. Die Güterproduktionen, Finanztransaktionen, Transportwege. Autos und Züge fahren immer schneller. Mit dem Flugzeug lassen sich große Strecken innerhalb kürzester Zeit überwinden. Bis vor 200 Jahren war das Pferd das schnellste Transportmittel. Seither hat sich alles beschleunigt. Bis hin quasi zur Lichtgeschwindigkeit im Internet.

 

Aber die digitale Revolution hat auch zu mancherlei Zeitersparnis geführt. Man kann heute viel einfacher und schneller mit einer Behörde, mit einem Kunden oder einem Unternehmen in Kontakt kommen.

Das ist das Paradoxe. Diese neue Flexibilität hat sicher Vorteile. Aber sie hat auch eine Kehrseite, die häufig unterschätzt wird. Das Internet ist die komplette Entgrenzung. Alles ist jederzeit machbar. Sie können von zu Hause arbeiten, Sie können nachts shoppen, die Ladenschlusszeiten heben sich auf. Hier mal eine Zahl: Leitende Angestellte in den Siebzigerjahren haben jährlich eintausend Nachrichten bearbeitet. Heute, mit der Erfindung der E-Mail, sind es dreißigtausend Botschaften im Jahr. Wir unterschätzen, mit welcher Überforderung diese neue Flexibilität, immer und überall erreichbar zu sein, einhergeht.

 

Inwiefern?

Nach der Beschleunigung von Vorgängen, ausgehend von der Dampfmaschine, in den vergangenen 200 Jahren hat das Internet dazu geführt, dass wir heute die Zeit immer mehr verdichten. Stichwort Multitasking. Auch auf dem Handy können Sie gleichzeitig zig verschiedene Apps bedienen. Wenn Sie eine Aufgabe erledigt haben, wartet schon die nächste. Sie kommen fast nie in die Situation, so wie das früher der Fall war, mal genügend Zeit für sich oder das Nichtstun zu haben. Bis vor wenigen Jahren haben wir uns noch zu bestimmten Zeiten aus der Zeitung, dem Radio oder aus dem Fernsehen informiert. Heute bekommen wir alle Ereignisse quasi in Echtzeit auf das Handy oder den Computer geliefert.

 

In Michael Endes Roman „Momo“ sind es die grauen Herren, die Zeit stehlen. Wer stiehlt uns heute die Zeit?

Das sind meist wir selbst. Wir verlagern den Stress, den jede Beschleunigung mit sich bringt, längst in unsere Freizeit. Wir essen Fast Food im Stehen. Trinken Coffee to go. Wir telefonieren beim Autofahren, im Gehen oder wenn wir Sport treiben. Manche Menschen chatten sogar übers Smartphone, während sie sich mit einer anderen Person unterhalten.

 

Aber so neu ist das Phänomen der Unrast nicht. Schon im Buch Hiob ist überliefert: „Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe.“

Die Unruhe ist per se nichts Negatives. Die Unruhe hat auch eine produktive Seite. Sie treibt uns an, sie hilft uns, unsere Lebenszeit positiv zu nutzen. Das hat aber nichts mit der heute fast allgegenwärtigen Diktatur der Uhr oder der Verdichtung von Zeit zu tun. Wir haben heute nicht weniger Zeit als früher. Die Lebenserwartung in Deutschland hat sich in den vergangenen 150 Jahren fast verdoppelt. Zugleich hat sich die Arbeitszeit verringert. Wir haben also heute mehr Zeit, nur wir packen viel mehr in diese Zeit hinein.

 

Sie haben vorhin angedeutet, es gebe so etwas wie ein natürliches Zeitgefühl. Wie kommen wir dahin zurück?

Wir sollten wieder mehr auf den eigenen Körper hören. Ich schlafe zum Beispiel, bis ich wach werde – und nicht, bis der Wecker klingelt. Die durchschnittliche Schlafdauer des Menschen hat sich seit dem 19. Jahrhundert um zwei Stunden verringert. Seitdem der Mensch sich mehr am Ziffernblatt einer Uhr als an Jahreszeiten oder dem zyklischen Geschehen am Himmel ausrichtet, verliert sein Leben an Vielfältigkeit. Die Uhr ist der Tod der Zeitvielfalt.

 

Im Alten Testament wird der Sabbat als Ruhetag eingefordert. Gott ist es wichtig, dass Menschen zur Ruhe kommen. Auch Gott selbst hat am siebten Tag geruht.

Ich halte seit Jahren Vorträge, um den Sonntag zu erhalten. Die Pausen sind ein wichtiges Element in jedem Rhythmus. Es ist wissenschaftlich längst belegt, dass der Mensch Zeiten braucht, in denen er zu sich kommen kann und nicht getrieben wird von irgendwelchen Vorgesetzten und Normen. Pausen erhöhen die Kreativität und Produktivität. Zudem verleihen uns Pausen Orientierung. Ohne sie ginge alles immer unentwegt weiter und die Menschen wüssten am Ende nicht mal mehr, woher sie kommen und wohin sie wollen. Ohne Pausen ist auch die Musik nur Lärm.

 

Wie sollte man Auszeiten fruchtbar gestalten?

Pausen sollten nutzlos sein. Gerade wenn sie nutzlos sind, sind sie nicht sinnlos. Sie sollten Pausen nicht mit einem Programm vollstopfen, denn dann sind es keine Pausen mehr. Der Mensch sollte in seiner Freizeit, anders als die Wirtschaft, auch ein Genug kennen. Wer kein Genug kennt, ist verloren. Der Verzicht ist ein wichtiges Kriterium, um zu sich selbst und zur Ruhe zu kommen.

 

Interview: Andreas Kaiser