Es gibt immer mehr zu tun, ob bei der Arbeit, nach Feierabend oder im Italienurlaub. Kein Aspekt unseres Lebens ist vor dieser konstanten Betriebsamkeit sicher. Nichtstun: Wissen wir überhaupt noch, wie das geht?
Ein Selbstversuch

(August 2017, von Lydia Polzer)

 

Ein Fiat fährt gemächlich über den Platz und biegt vor der Kirche scharf ein. Die Reifen quietschen leise auf dem blanken Pfl aster. Ein korpulenter Italiener mit
schulterlangem grauen Haar und neongrünem Haarband sitzt allein an einem Cafétisch auf dem Kirchplatz und liest Zeitung. Es ist 9:12 Uhr. Ich sitze zwei Tische weiter und tue nichts. Schon seit etwa zweieinhalb Minuten. Und genau dafür bin ich hierher gekommen, nach Conversano an Italiens Südostküste, eine Autostunde nördlich
von Brindisi. Ich bin hier, um nichts zu tun, denn wo kann das gelingen, wenn nicht in einer unaufgeregten süditalienischen Kleinstadt? Nichts tun, das
hört sich einfach an, aber nur noch selten versuchen wir es oder haben auch nur die Gelegenheit dazu. Es gilt, Lebenszeit zu maximieren. YOLO.
You only live once. Also gehen wir zum Yoga- oder Tangokurs, trainieren für den nächsten Triathlon, überwachen unseren Kalorienverbrauch mit Fitness-
Apps, buchen den nächsten Urlaub online, lernen zu töpfern – und all das noch bevor der Arbeitstag angefangen hat. Dort beantworten wir E-Mails,während wir ein Telefongespräch führen und gleichzeitig in einer Besprechung mit der Rechnungsabteilung sitzen. Björn Kern, Autor des Buches Das Beste, was wir tun können, ist nichts, fasst die Situation der modernen Gesellschaftso zusammen: „Dieser Wahnsinn des Multitaskings war früher reserviert für Spitzenmanager, heute wird das von jedem Normalsterblichen erwartet.“ Selbst im Urlaub tun wir immer seltener nichts, stehen gar noch früher auf, um die Tauchfahrt mit Walhaien nicht zu verpassen, Yoga bei Sonnenaufgangzu machen oder Schildkröten im Morgengrauen zu streicheln.

Jetzt ist es 9:17 Uhr und ich bin unruhig. Ich habe schon zweimal den Stuhl gewechselt, weil ich nicht weiß, ob ich auf das Meer am Horizont oder die kreideweiße Fassade der Kirche schauen will. Ich habe ein Croissant bestellt und bereue nun, das mit Marmelade statt das mit Schokolade gewählt zu haben. Hätte ich nicht doch lieber in das Café mit Blick auf den niedlichen Platz mit den Gemüsemarktständen gehen sollen? Bin ich am richtigen Ort, um nichts zu tun? Nach sieben Minuten am Cafétisch frage ich mich schon leicht nervös, was ich als nächstes tun könnte.

Die Zeitforscher und Gründer des Zeitberatungsinstituts Times and More, Karlheinz und Jonas Geißler, haben kürzlich das Buch Time is Honey – Vom klugen Umgang mit der Zeit veröffent- licht. Sie sehen in der Erfindung der Uhr gegen Ende des Mittelalters nicht nur den Beginn der Neuzeit, sondern auch den Anfang aller Zeitprobleme: „Die heute viel beklagten zeitlichen Entscheidungsschwierigkeiten, die wir ‚Zeitprobleme‘ nennen, gibt es erst, seitdem man zwischen Uhr und Sonne, Glockenschlag und Hahnenkrähen entscheiden kann und entscheiden muss.“ Erst seit es Uhren gibt, kann Zeit gewonnen, gespart oder gar verschwendet werden. Erst seit wir Zeit in Stunden und Minuten messen, können wir auch zwischen Arbeits- und freier Zeit unterscheiden und dann selbst die Freizeit in genau abgemessene Portionen unterteilen. Time is Honey liest sich wie ein Appell zur Zeitverschwendung, ein Aufruf, die Breite des Tages zu erleben, statt die Länge der Stunden abzuste- cken. Ein Abschnitt heißt „Muße und Müßiggang – Vom süßen Nichtstun“.

Wie genau geht das aber nun: das Nichtstun? Der 73-jährige Karlheinz Geißler hat mir aufgetragen, mich um 8 Uhr in das Café auf der örtlichen Piazza an einen Außentisch zu setzen, einen Cappuccino und eine Brioche zu bestellen und dann zwei Stunden lang einfach dem Geschehen beizuwohnen.

Ich hatte von Anfang an gegen die Uhr rebelliert und war zum Nichtstun mehrals eine Stunde zu spät. Brioche gab es auch nicht. Aber jetzt ist es
9:40 Uhr, aus meinem Croissant quillt sonnige Pfirsichmarmelade, zum korpul- enten Italiener hat sich ein zweiter gesellt, und auch die anderen Tische füllen
sich. Drei Herren in Polohemden disku- tieren, ein Pärchen schweigt sich an, vier englische Touristen haben ihre eigenen Sitzkissen dabei. Ich trinke einen Schluck Cappuccino und bin plötzlich vorsichtig optimistisch, dass das Nichtstun doch ganz interessant werden könnte. Ich setze mich nicht mal um, als ein Lastwagen vor dem Café hält und mir die Sicht auf die Kirche versperrt, starre nicht mehr auf die Uhrzeiger der Kirchenuhr.

„Einfach mal sein zu dürfen und schauen zu dürfen, das ist gelungenes Nichtstun“, hatte mir Björn Kern erklärt. Dazu braucht man auch gar nicht nach Italien zu fahren, meint er. Er ist glückli- cher Besitzer eines reperaturbedürftigen Hauses im Oderbruch. Am Ende seines Grundstücks steht eine Bank unter einem Birnbaum. „Die könnte man so nutzen, in dem man völlig KO nach der 40-Stunden- Woche mal eben am Samstag Abend 20 Minuten da verbringt und sich nach dem Urlaub sehnt.“ Statt in den Urlaub oder
in den Baumarkt zu fahren, sitzt er in seinen freien Stunden lieber auf der Bank und schaut den Libellen zu. „Ich ließ das Haus zunächst weitgehend unrenoviert und genieße das, was da ist, statt demHandwerkertraum und dem Landlust- Magazin nachzueifern. So habe ich das, wonach ich gesucht habe: Freiheit und Autonomie über die eigenen Stunden.“Sein Rat für den Selbstversuch: „Nicht überfordern, nicht mit einer ganzen Woche anfangen, auch nicht unbedingt weit weg fahren.“ Einfach mal eine Stunde innehalten, wo man gerade ist.

Um 10:05 Uhr stehen die drei Polohemdträger vom Nebentisch auf und sagen „Ciao“. Um 10:10 Uhr stehen sie immer noch da, reden und zeigen keine Anzeichen von Eile. In Conversano kennt man sich mit dem geruhsamen Umgang mit der Zeit aus. Damen mit krausge- lockten Pudeln laufen über den Platz, ein Lieferwagen bringt Gemüse, ein Mann mit Bierbauchansatz trägt ein T-Shirt mit dem Schriftzug „Bedroom Warrior“. Nichtstun ist überraschend unterhaltsam.

Gegen 10:27 Uhr setzt dann aber doch wieder ein Ungeduldsgefühl ein. Ich will ans Meer, frage mich, wie wohl die Kirche vor dem Café von innen aus- sieht. Sollte man sich in einer Stadt, die schon in der Eisenzeit besiedelt war, nicht auch das Stadtmuseum oder zumin- dest die mittelalterliche Burg anschauen?Ich rufe mich wieder zur Ruhe und zum erneuten Nichtstun auf und bestelle einen Espresso. Auch Jonas Geißler hatte erklärt, dass es darauf ankommt, „nicht alles gestalten und kontrollieren zu wollen“. Der 38-Jährige sagt, dass „man so eine lustvolle Experimentierhaltung braucht, quasi eine humorvolle Selbst- beobachtung, und das kann sogar lebensverlängernd wirken. Man lebt nicht unbedingt tatsächlich länger, aber bekommt ein anderes Zeitgefühl.“

Sein Vater Karlheinz Geißler stimmte mir zu, dass Süditalien sich zum Nichtstun prima eignet. Er hatte mir prophezeit, dass mir nach zwei Stunden im Café etwas einfällt, was ich tun möchte, von dem ich vorher noch gar nicht ahnte, dass ich es tun wollte. Der Espresso kommt und im Radio läuft Knockin on Heaven’s Door. Was ich als nächstes tue, weiß ich immer noch nicht, aber es ist definitiv an der Zeit, zu gehen.

Björn Kern gibt zu bedenken: „Beim Nichtstun geht es nicht darum, gar nichts zu tun oder nur in der Hängematte zu liegen. Es ist weniger ein unterlassenes Handeln als eine verinnerlichte Hal- tung, genauer hinzuschauen und daszu genießen, was man hat.“ Als ich auf den kostenlosen Fahrradverleih vom Tourismusbüro neben dem Café stoße, weiß ich daher sofort, wie ich die nächsten Stunden Nichtstun verbringe und rolle kurz darauf auf der leicht abschüssigen, schnurgeraden Straße quer durch Olivenhaine in Richtung Meer.

Aber ich hadere mit dieser Planlosigkeit, fühle mich unentschlossen oder gar gelangweilt. Wie die Geißlers in ihrem Buch feststellen: „In einer Gesellschaft, die dem Tun mehr Platz einräumt als dem Lassen, ist die Langeweile ein Makel, ein Stigma, ein Zeichen des Versagens.“ Wir haben FOMO – fear of missing out – die Angst etwas zu verpassen. Björn Kerns Antwort darauf: „Die Angst vor dem ungelebten Leben verliert man dadurch, dass man nicht glaubt, man würde nicht leben, wenn man nichts tut.“

Der 39-Jährige machte die Erfahrung, dass zum gelungenen Nichtstun „ein kleines Quäntchen Glück gehört“, dass es nicht immer und nicht automatisch klappt. „Aber es gibt so glückliche Momente, in denen man merkt, das etwas kippt.“

Auch bei mir klappt das Nichtstun in Süditalien höchstens sporadisch, ist dann aber umso schöner: rücklings im Mittel-meer treibend und den Kieseln am Meeresboden lauschend; ausruhend im Schatten unter dem Feigenbaum im Kartoffelacker umgeben von den erfrischend feinen Wassertröpfchen der Berieselungsanlage, die in der Sonne funkeln; an der Ballustrade an den Klippen vom kleinen Küstenstädtchen Polignano A Mare, 30 Meter über der blauen Meereslagune mit jauchzenden Badenden im klaren Wasser unter mir.

Als die goldene Stunde in Conversano anbricht, gebe ich das Fahrrad wieder ab. Hatte ich mich am Morgen noch gewun- dert, warum so viele Bänke aneinander- gereiht auf dem Kirchplatz stehen, wird es jetzt klar. Allein, zu zweit, zu dritt sitzen meist ältere Herren dort im letzten Sonnenlicht, erzählen oder tun einfach nichts. Ich setze mich dazu, schaue die Menschen an, schaue der Sonne beim Untergehen zu. Ich bin mir nicht sicher, ob mir das Nichtstun gelungen ist, aber ich werde es gern wieder versuchen.