Text 3 unserer vierteiligen Kurz-Text-Reihe,
von Karlheinz Geißler, 02/2017

 

Der Mensch ist Teil der Natur und als solcher ist in seinem Zeitdenken und Zeithandeln nicht völlig frei. Nur in eingeschränktem Umfang ist die Zeit, das Werden und Vergehen, subjektiver Verfügungsgewalt zugänglich. Menschen entscheiden zwar über Zeit und machen Ordnung in und mit ihr, Zeit widerfährt ihnen aber auch. In den Worten des Philosophen Hans Blumenbergs: „Zeit ist das am meisten Unsrige und doch am wenigsten Verfügbare.“

Aus ökologischer Sicht ist der Mensch grundsätzlich abhängig von seiner eigenen Natur und von den Zeitverläufen der äußeren Natur. Sein Zeitleben und sein Zeiterleben sind an die Prozessabläufe der Natur gebunden. Er erlebt tagtäglich, dass die Zeiten des Gestaltens, des Erduldens und des Erfahrens nicht der festgeschriebenen und kalkulierbaren Ordnung der Uhrzeigerverläufe folgen. Kein Tag gleicht dem anderen, nur bei der Uhr ist das der Fall. Als psycho-physisches Naturwesen ist der Mensch den rhythmisch gestalteten Zeitimpulsen seines leiblichen Organismus unterworfen. Das, was wir menschliche Willensfreiheit nennen ist, was  Zeit und den Umgang mit ihr betrifft, daher eine Fiktion. Nur dort, wo das Menschenrecht auf Zeit zugleich auch als Naturrecht auf eine eigene Zeitnatur verstanden und akzeptiert wird, lässt sich maßvoll, zufrieden, gesund und würdig leben. Jeder Mensch trägt Rhythmen in sich, die sein Fühlen, sein Wahrnehmen und sein Tun beeinflussen. Der Rhythmus des Herzschlags, der des Pulses, die zyklisch verlaufende Ausschüttung der Hormone, alles das zählt zu den Grundlagen menschlicher Existenz. Das Leben kann daher nicht gegen die Gesetze der Zeitnatur, sondern nur mit und nach den Gesetzen der Zeitnatur gelebt werden.

Geprägt und strukturiert werden das Zeitleben und das Zeiterleben durch die unterschiedlichen Zeitmuster Rhythmus und Takt. Der Takt ist das Zeitmuster dem die Uhrzeit folgt, der Rhythmus das Zeitmuster des Lebendigen, das der inneren und der äußeren Natur. Während der Takt für eine messbare und berechenbare Zeit sorgt, steht der Rhythmus für eine lebendige, eine variable Zeit. Nach 600 Jahren Dressur zur Veruhrzeitlichung haben sich die Menschen und deren Lebenswelten in Europa mehr und mehr von den Zeitansagen der inneren und der äußeren Natur distanziert. Die einstmals enge Korrespondenz zwischen der menschengemachten Zeitordnung (Uhrzeit) und den sich periodisch wiederholenden Zeitläufen der Natur ist zerbrochen. Für den italienischen Filmregisseur Frederico Fellini ein Grund zur Klage: „Unser Land ist arm an Rhythmus.“ Das muss nicht so sein. Anders werden könnte dies durch eine umfassender ökologisch ausgerichtete Zeitpolitik.

Deren Ziel müsste es sein, die zeitliche Daseinsgestaltung und die gesellschaftliche Zeitordnung umfangreicher und wirkmächtiger als es bisher der Fall ist an der zeitlichen Naturgebundenheit des Menschen auszurichten und das Wirtschaftshandeln nicht gegen, sondern mit der Natur und an deren Zeitmaßen zu organisieren.

Das Leben ist multitemporal, und die Welt ist es auch. Man muss die abwechslungsreichen Schattierungen des irdischen Zeitgefüges, die vielfältigen Geschwindigkeiten, die farbigen Zeitqualitäten nur entdecken, akzeptieren, schützen und pflegen. Es lässt sich nur dort relativ entlastet von Zeitnöten, Zeitkonflikten und Zeitproblemen existieren, wo die Menschen ihr Zeithandeln in eine gelungene Balance mit den natürlichen Zeitmaßen und den Zeitanforderungen der menschengemachten Zeitordnung bringen.

In diese Richtung einer stärker ökologisch ausgerichteten Zeitpolitik weist die Rio-Erklärung der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (Agenda 21). Sie wirbt für eine Politik, die eine Näherung der Zeiten der Ökonomie (Uhrzeiten) und der Zeiten der Natur (Naturzeiten) vorantreibt und ermöglicht. Ökologisch orientierte Lebensstil- und Politikkonzepte, die mit den Begriffen der „Nachhaltigkeit“, der „Vorsorglichkeit“ und der „Zukunftsverträglichkeit“ argumentieren, zeigen in diese Richtung.

Wie Systeme in der Natur ihre Stabilität und ihre Elastizität, ihre Fehlerfreundlichkeit und Überlebensfähigkeit dadurch vergrößern, indem der Reichtum an unterschiedlichen Arten, Formen und Qualitäten zunimmt, so erhöhen auch Gesellschaften und deren soziale Subsysteme mit der Breite und der Vielfalt ihrer Zeitformen und Zeitqualitäten ihre Lebens- und Überlebenschancen. Je größer die Mannigfaltigkeit, die Vielfalt umso mehr, besser und eher sind Gemeinschaften, Familien, Arbeitsteams in der Lage, mit neuen Situationen, mit Überraschendem und Unvorhersehbarem umzugehen.