MEHR RHYTHMUS FÜR DIE STADT
VOM KLUGEN UMGANG MIT DER ZEIT

IM GESPRÄCH MIT DEN ZEITFORSCHERN KARLHEINZ UND JONAS GEISSLER

TEXT: DAVID EISERT // FOTOS: LARA FREIBURGER

 

„Zeit kann man nicht sparen, nicht managen, nicht verlieren. Man kann mit der Zeit nur eines machen: sie leben.“ Karlheinz und Jonas Geißler beschäftigen sich als Zeitforscher intensiv mit dem Phänomen Zeit in unseren Gesell- schafts-, Bildungs- und Wirtschaftssystemen. Als Gründer von timesandmore, einem Institut für Zeitberatung, bieten sie Vorträge, Workshops und verschiedene Beratungsformate an, um den eigenen Umgang mit der Zeit anders zu denken und individuelle Zeitkompetenz zu entwickeln. Ihr aktuelles Buch „Time is honey“ ist ein Plädoyer, die Zeit als eine gute Freundin und eine Bereicherung für das Leben zu sehen – und nicht als Belastung, die sich durch volle Kalender und permanenten Termindruck auf das Gemüt schlägt. Für curt haben sich Vater und Sohn einen Nachmittag Zeit genommen, um darüber zu sprechen, wie eine Stadt auch jenseits der Uhr von der Zeit durchdrungen ist.

 

 

Was reizt Sie daran, zum Thema Zeit zu forschen, und welche Ansätze verfolgen Sie?
JONAS GEISSLER: In meiner jetzigen Arbeit reizt mich die immense Bandbreite von welt- bzw. lebensphilosophischen bis zu ganz alltäglichen Fragen. Mit der Sicht durch eine zeitliche Brille möchte ich gerne eine andere Perspektive vermitteln, um zu neuen oder anderen Schlüssen, Ideen oder Bewertungen der Dinge zu kommen. Diese Perspektive ist für viele Menschen zunächst ungewöhnlich, denn Zeit ist für die meisten Menschen immer noch negativ besetzt. Und dem möchten wir dagegen- setzen, dass Zeit nicht nur Money ist – etwas, dem ich hinterherhetzen muss und das mir immer fehlt –, sondern dass Zeit eben auch Honey ist: etwas Schönes und Verlockendes.

KARLHEINZ GEISSLER: Was wir gemeinsam haben, ist, dass das Thema an alles anschlussfähig ist. Alles, war wir im Leben tun, ist zeitlich. Zeit ist ein Phänomen, das jedem Denken und jeder Handlung zugrunde liegt. Es geschieht nichts auf dieser Welt außerhalb der Zeit und außer- halb des Raumes. Das ist das Faszinosum an der Zeit. Und wenn ich mir das Leben erklären will, dann muss ich über die Zeit nachdenken.

Verstehe ich Sie richtig, dass sich unsere Zeitbilder einem gewissen Weltbild unterordnen? Von den Ressourcen, die es auf der Welt gibt, scheint die Zeit diejenige zu sein, die unendlich vorhanden ist.
J. G.: Die Vorstellung von Zeit ist ein Teil der Weltbilder, mit denen wir uns unsere Welt konstruieren, um sie für uns erlebbar und handhabbar zu machen. Die Zeitbilder sind häufig nicht bewusst, sondern implizit. Wir werden ja nicht mit einer bestimmten Zeitvorstellung geboren – ob wir z. B. immer der oder die Erste sein wollen –, sondern wir haben das erlernt. Und deshalb sind sie kontingent. Man kann sie also verändern oder auch verlernen, um stimmigere Zeitbilder zu entwickeln.

 

Sie weisen gerne darauf hin, dass Sie sich nicht als Experten für Zeitmanagement-Methoden verstehen.
K. G.: Womit wir tatsächlich große Schwierigkeiten haben, sind die Angebote zum Zeitmanagement. Das klassische Zeitmanagement ist letztlich ein Uhrzeit-Management. Und wir sehen die Uhr zwar als
ein wirksames Hilfsmittel, aber auch als eine Ursache für unsere Zeit- probleme. Und dieses Zeitmanagement, das auf die Uhr ausgerichtet ist, ist nicht unser Thema.

 

Sie haben lange an der Universität der Bundeswehr gelehrt. Wie hat sich dieses besondere Umfeld auf Ihre Forschung ausgewirkt?
K. G.: Das Militär hat eine bestimmte Funktion in der Erziehung der Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitverständnis. Das Militär ist
ein System, das auf die Uhrzeit hin erzieht und nicht auf die Zeit an sich. Deshalb macht das Militär immer Zeitdruck, weil die Uhrzeit den Zeitdruck macht. Paradoxerweise gibt es beim Militär aber gar keinen Grund, Zeitdruck zu machen, solange kein Krieg geführt wird. Das Militär erzieht zum Zeitdruck, obwohl das Wichtigste beim Militär das Warten ist.
J. G.: Hier sieht man, wie viel Mühe aufgewendet wird, um die eigene Existenzberechtigung aufrechtzuerhalten. Und das lässt sich auch
gut auf die Wirtschaftswelt übertragen. Wenn ich an meinem Arbeits- platz sitze und Zeit habe, dann ist das erst mal verdächtig. Und deshalb entwickeln die Leute Muster, die signalisieren, dass ihre Zeit permanent knapp ist. Zeitlücken sind im unternehmerischen Kontext quasi nicht existent, da die Leute schon selber dafür sorgen, dass sie keine Zeit haben.

 

Also herrscht aktuell immer noch die Vorstellung „Zeit ist Geld“?
K. G.: Das Muster, Zeit in Geld zu verrechnen, greift von der Ökonomie über in alle Bereiche der Gesellschaft. Durch verkürzte Schul- und Studienzeiten finden wir die Kolonialisierung des Musters „Zeit ist Geld“ im Bildungsbereich. Und dieses Muster ist nur über die Uhr möglich.
Die Uhr durchdringt alle Lebensbereiche. Die Klage „Ich habe keine Zeit“ ist eigentlich falsch, denn natürlich habe ich Zeit. Jeden Tag kommt neue nach. Aber wenn ich dem Muster „Zeit ist Geld“ folge, dann kann ich natürlich nicht so denken. Denn dann gilt jede Zeit, die ich nicht produktiv nutze, als verschwendete Zeit. Und das ist unser Denkmuster. Zeit, die nicht umgesetzt wird in Geldwert, gilt als verschwendete Zeit.

 

Aber sind diese Muster denn noch zeitgemäß oder praktikabel im modernen 21. Jahrhundert?
K. G.: Zeitlosigkeit wird die neue Attraktion. Die Uhr ist zu langsam geworden, sie organisiert zu langsam. Pünktlichkeit ist zunehmend kein moralisches Kriterium mehr. Die Pünktlichen machen keine Karriere mehr, sondern nur die Flexiblen. Ich muss am Punkt sein, aber nicht mehr zwangsläufig pünktlich. Der moderne Mensch muss differenzieren, wann er was in welcher Form und Qualität abliefert. Immer mehr Betriebe erkennen, dass flexibles Verhalten und Reaktions- fähigkeit viel wichtiger werden als Pünktlichkeit. Vom Takt zum Rhythmus. Von der Zeit zum Augenblick. In langfristigen Prozessen kurzfristig zu reagieren, wird zeitgemäßes Arbeiten ausmachen.

J. G.: Das klingt jetzt erst einmal radikal formuliert. Aber ich erlebe schon, dass vor allem in der agilen, digitalen New-Work-Welt die Orien- tierung an der Uhrzeit abnimmt. Kurzfristigkeiten sind hier gefragt, auch wenn das Modell der Uhrzeit noch erkennbar bleibt. Was passiert,ist das Auflösen von starren Planungsphasen in iterative Schleifen. Denn eine gewünschte Exaktheit würde einen so komplexen Planungs- aufwand bedeuten, dass wir so langsam werden, dass sich das Anfangen schier nicht mehr lohnt. Sich gemeinsam auf die Reise zu machen, im ständigen Kontakt über das mögliche Ziel zu bleiben, sind die Heraus- forderungen in der neuen Welt der Wirtschaft.

 

Ich möchte gerne die Entwicklung der Stadt München mit ins Gespräch holen. Unsere Stadt entwickelt und verändert sich immer rasanter. Verdichtung, engere Taktungen: Sind das auch Themen, mit denen Sie sich beschäftigen?

J. G.: Wir untersuchen das jetzt nicht empirisch. Als Bürger dieser Stadt bekommen wir diese Veränderungen aber natürlich mit.
K. G.: München scheint mir im Moment eine der führenden Städte
bei der Übersetzung von Schnelligkeit auf Verdichtung zu sein. Beschleunigung ist immer angesagt, wenn man Wirtschaftswachstum erzielen möchte. Hier lässt sich allerdings nicht mehr viel steigern. Und nun brauchen wir ein neues Steigerungsmittel und das ist die Verdichtung. Das Prinzip wird die permanente Bewegung sein. Die zweite Stammstrecke wird nicht dazu führen, dass der Fahrplan eingehalten wird, sondern dass der Fahrplan wegfallen kann. Und München ist führend bei der Bürgersteiggastronomie. Die Bank oder das Mäuerchen, auf die man sich früher vielleicht ganz privat hin- setzen konnte, wird weggeräumt, um ein Geschäft daraus zu machen. Wenn sich Plätze durch Verkehrsberuhigung verändern, dann ist zuerst die Gastronomie da – und nicht die Stimmen, die Raum zum Flanieren oder Ähnliches fordern. Es geht zuerst darum, mit dem Raum Geld zu verdienen.

 

In Ihrem Buch schreiben Sie von Zwischenräumen, Fugen, Brachen, Pausen und ähnlichen Dingen, die der Menschen benötigt, um
gut leben zu können. Wo sehen Sie diese Zwischenräume in unserer Stadtentwicklung?

K. G.: Als Zeitform würde das bedeuten: mehr Rhythmus in die Stadt! Die Innenstadtgastronomie bringt keinen Rhythmus in das Leben. Grünflächen bringen diesen Rhythmus. Am Gärtnerplatz kann man das ganz gut beobachten. Es ist ein Platz geworden, der die Menschen anzieht und zum Zusammensein einlädt.

J. G.: Der Hofgarten ist auch so ein rhythmischer Platz. Man kann sich hinsetzen, es wird Boule gespielt, Leute machen Musik, es wird getanzt. Das ist ein gelungener Übergang von einem Stadtteil zum nächsten. Solche Übergänge müssten mehr geschaffen werden, um eine Abwechs- lung zwischen langsam und schnell zu ermöglichen. In dieser Stadt, die nicht so wahnsinnig weitläufig ist, ließe sich problemlos ein autofreier Innenstadtbereich gestalten. Ich würde mir ein wenig mehr Progressivität und Mut in Richtung alternative Mobilitätskonzepte wünschen.

K. G.: Der Sendlinger Tor Platz ist hingegen ein Negativbeispiel. Der müsste eigentlich Sendlinger Torschlusspanik Platz heißen, so wie
er sich darstellt. Es ist ein wahnsinnig pulsierender Platz, der nur Hektik produziert. Der Isartorplatz übrigens auch. Das ist ein reiner Verkehrs- knotenpunkt und mittendrin in dieser verrußten Atmosphäre befindet sich das Valentin-Karlstadt-Musäum. Wenn das mal keine Ironie ist.

 

Vor etwas mehr als zehn Jahren hielt das Smartphone Einzug in unsere Lebenswelt. Ich kann ständig kommunizieren und es ist platzsparend. Läge hier nicht eine Lösung für viele der Probleme im Umgang mit der Zeit? Oder werden nur neue Probleme produziert?

J. G.: Das Schwierige ist, dass Sie beides gleichzeitig tun. Mobilität ließe sich zum Beispiel mit diesen Geräten viel sinnvoller organisieren. Vorausgesetzt jeder stellt seine Fahrten plus die freien Plätze im Wagen online. Theoretisch. Denn gleichzeitig steigert sich der Koordi- nationsaufwand der vielen Möglichkeiten, die nun zusätzlich geschaffen werden. Die Möglichkeiten werden ja permanent an uns herangetragen. Entscheiden, welche Möglichkeit wir ergreifen oder weglassen, das müssen wir als Person. Und wir müssen mit den Erwartungen um- gehen, die an diese Möglichkeiten geknüpft sind. Das kostet Zeit, Ner- ven, Ressourcen und so weiter. Deshalb ist es beides gleichzeitig und die Trennlinie ist relativ unscharf. Und nahezu gefährlich werden die Geräte, wenn sie genutzt werden, um unsere Affekte zu regulieren. Denn wenn wir verlernen, selber unsere Affekte zu regulieren – was ein wichtiger Teil von Menschwerdung und Gemeinschaftsbildung ist –, dann wird es problematisch, denn dann beginne ich abhängig zu werden. K. G.: Durch permanentes Chatten entsteht auch eine ganz andere

Art der Kommunikation. Der spontane Anteil, der emotionale Freude, Wut, Begeisterung etc. ausdrückt, ist hier nicht gegeben. Ich muss irgendwelche Zeichen schicken, um auszudrücken, dass ich mich freue. In diesen Kommunikationsmitteln muss ich immer abstrahieren.

 

Digitalisierung per se ist nicht schlecht. Ist der Umgang damit die Herausforderung?
J. G.: Wir pendeln zwischen den Dimensionen von Resonanz und Ent- fremdung. Resonanz entsteht, wenn ich in Kontakt zu anderen Menschen stehe, zur realen Umwelt. Ich gehe in einer Tätigkeit auf. Es geht darum, das Beziehungsbegehren, was wir Menschen haben,
zu stillen. Denn wir werden aus einer Resonanzsituation heraus in die Welt geboren. Der Mutterleib ist der erste Resonanzraum, in dem sich der Mensch entwickelt. Entfremdung ist eine stumme Weltbezie- hung. Ich habe zwar alle Möglichkeiten, aber ich spüre sie nicht mehr. K. G.: Und das hat etwas mit Zeit zu tun. Wir sind ja quasi unser eigenes Zeitsystem. Wir werden mit bestimmten Rhythmen geboren, die unseren Alltag zunächst bestimmen – Helligkeit, Dunkelheit, Sonnenlicht –, und wenn unser Zeitsystem Resonanz in unserer Umwelt findet, dann fühlen wir uns wohl. Deshalb fahren wir am Wochenende in die Natur, um diese ursprüngliche Resonanz in der Natur wieder
zu erfahren. Auch in der Stadt kann man diese Resonanz erfahren. Und danach muss Stadtplanung geschehen, damit sie dem Menschen diese Resonanzerfahrung ermöglicht.

 

 

Damit wird das Weglassen zu einer der großen Herausforderungen des neuen Jahrhunderts? Ich muss nicht mehr von wenigen Optionen die für mich passende herausfinden, sondern aus den unendlichen Optionen filtern, welche ich weglasse. Nicht mehr to do, sondern let it be?

J. G.: Default is all in! Die aktuellen Smartphones geben ja nicht mir die Entscheidung, welche Funktionen ich nutzen möchte. Ich muss meine Häkchen setzen, wenn ich etwas nicht möchte. Der Umgang ist wesent- lich stärker personalisiert. Die Gesetzgebung mit ihren Regelmecha-nismen hinkt der digitalen Welt maßlos hinterher. Die Herausforderung ist, dass wir entscheiden müssen, ob wir auf push oder pull stellen. Welche Apps wir herunterladen. Zu welchen Gruppen wir nicht dazuge- hören wollen. Es ist ein Riesenunterschied, ob ich mich aktiv für etwas oder aktiv dagegen entscheiden muss.

 

Worin sehen Sie den klugen, erfüllenden Umgang mit der Zeit?

J. G.: Resonanz und Wirksamkeit sind zwei unserer großen Themen im Umgang mit der Zeit. Zeiten, in denen ich Resonanzerfahrungen sammle, und Zeiten, in denen ich Wirksamkeit erfahre. Dazu kommen noch die Zeiten, die alles offenlassen. Die Zeiten, in denen die Zeit auf mich zukommt. In denen ich Dinge finde, nach denen ich nicht gesucht habe. In einem bewussten Zeitleben lasse ich den Dingen, die eher Nebenprodukte sind, eine Chance. Dinge wie Vertrauen, Freundschaft und Liebe. Das sind Dinge, die sich nicht direkt intendieren und mana- gen lassen. Denn Vertrauen ist ein Nebenbei-Produkt meines Tuns und dafür muss ich sensibel für meine Umwelt sein.

K. G.: Aus Sicht der Wissenschaft stecken wir in einem gewissen Dilemma. Die schönen Zeiten sind die, in denen ich nicht über Zeit nach- denke. Weil wir aber über Zeit nachdenken, möchten wir mehr über gerade diese schönen Zeiten erfahren. Das ist eine Paradoxie, mit der wir aber ganz gut leben können.