Rondo, Beilage des Standard, 13.3.2020

INTERVIEW • MARKUS BÖHM

 

Der Zeit kann man ohnehin nicht entkommen. Daher sollten wir einen entspannten Umgang mit ihr pflegen – alles andere sorgt für Frust. Wie auch Jonas Geißler immer wieder feststellt. Als Sohn des deutschen Zeitforschers Karlheinz A. Geißler wurde ihm die Beschäftigung mit diesem Thema in die Wiege gelegt. Er berät Organisationen, hält Vorträge und Seminare über die Zeit, dieses wundersame Ding.

 

Trügt der Eindruck oder wird über die Zeit mindestens genauso oft geklagt wie über das Wetter?
Über beides lässt sich gut schimpfen. Tatsächlich stehen Zeit und Wetter in engem Bezug zueinander. In den roma- nischen Sprachen steht dasselbe Wort für Zeit und Wetter. „Tempo“ im Italienischen zum Beispiel. Wenn jemand klagt, dass er zu wenig Zeit habe, dann hat man sofort einen gemeinsamen Nenner für ein Gespräch. Wahrscheinlich wird selten jemand darüber klagen, dass er zu viel Zeit hat. Zumindest würde derjenige das kaum zugeben.

 

Warum ist das so?
Wer zu viel Zeit hat, der steht in unserer Beschleunigungsgesellschaft schnell einmal im Verdacht arbeitslos zu sein, im Pflegeheim oder in einer Justizvollzugsanstalt zu sitzen. Auf der anderen Seite sind die, die keine Zeit haben, die Erfolgreichen, Tüchtigen, die die dazugehören. Deshalb muss man sich das ab und zu vergegenwärtigen und nach außen kommunizieren.

 

Was sagt das über unser Verständnis von Zeit aus?
Zeit ist für viele ein Aggressionspunkt. Als wäre sie etwas, das man bekämpfen müsste. Das macht natürlich etwas mit unserem Zeitverhalten, wie man Zeit bewertet und letztendlich, wie zufrieden man im Leben ist.

 

Geht das auf die Annahme zurück, die Zeit beherrschen zu können?
Die Zeit ist einfach da. Man kann sie nicht beherrschen. Man kann nur sich selbst beherrschen und andere. Man kann Tätigkeiten beherrschen, aber mit der Zeit können wir überhaupt nichts machen, außer sie zu leben. Deshalb ist auch der Begriff „Zeitmanagement“ so irreführend. Denn wir können uns selbst und unsere Aufgaben organisieren, das hat aber nur Auswirkungen auf das Zeitgefühl und auf unser Verhalten in der Zeit. Selbst bei der Zeitumstellung, handelt es sich nur um eine Uhrumstellung. Daran erkennt man gut, dass wir das eine mit dem anderen gerne verwechseln. Dabei sind das zwei völlig unterschiedliche Dinge.

 

Sie sprechen damit den vielzitierten „Kampf gegen die Zeit“ an.
Die Vorstellung Zeit ist gleich Uhrzeit ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Das haben wir gelernt, seit vor rund 600 Jahren die mechanische Uhr erfunden wurde. Um es mit den Worten von Hartmut Rosa von der Uni Jena zu sagen: „Die Uhr hat die Zeit verfüg- und nutzbar gemacht“. Vor allem dann, wenn man sie mit Geld verrechnet. Damit ist das Bild in unseren Köpfen drin, dass Zeit etwas sei, das man messen kann. Vor der Erfindung der Uhr verschwendete man keinen Gedanken daran, dass man die Zeit messen und bewirtschaften kann. Wer es im antiken Rom eilig hatte, war klar als Sklave zu erkennen.

 

Das hat sich mit der Erfindung der mechanischen Uhr gewandelt?
Heute würde man sagen, das war eine disruptive Innovation. Eine Technologie, die ein neues Verständnis von Zeit mit sich brachte. Gott und die Natur flogen raus, das Geld kam ins Spiel. So wurde die Zeit durch die mechanische Uhr leer gemacht. Sie wurde zu einer reinen Quantität, die
unabhängig existierte und funktionierte. Damit kam auch eine neue Qualität in die Zeit – das Geld. Nicht zufällig entstanden kurz nach der Erfindung der mechanischen Uhr die ersten Banken in Italien.

 

Aber niemand verwechselt die Landkarte mit der Landschaft, wie Sie es so treffend in Ihrem Buch „Time is Honey“ formulieren. Warum geschieht dies analog mit der Uhr und der Zeit?
Es gibt die einen, die sagen: Zeit ist das, was auf der Uhr abzulesen ist. Die anderen sagen: Zeit ist das, was ich habe, wenn ich die Uhr wegschmeiße.

 

Ein Leben ohne Uhrzeit stellt sich aber vermutlich sehr kompliziert dar.
Man wird durch soziale Konventionen dazu gezwungen, mit der Uhrzeit zu leben. Unsere Hypothese ist auch, dass in einer verdichteten, postmodernen Zeit, wo die Digitalisierung der bestimmende Faktor ist, die Bedeutung der Uhr abnimmt. Wir stellen eine Rückkehr zum Rhythmus fest.

 

Was heißt das?
Der Arbeitsalltag wird mit Gleitzeit, Home Office, etc. individueller und auch flexibler. Man arbeitet dann, wenn man leistungsfähig ist. Das muss aber nicht nur Vorteile bringen. Denn man orientiert sich daran, was gerade reinkommt, etwa Push-Nachrichten, die eine gewisse Dringlichkeit vermitteln. Man kommt damit schnell in einen On-Demand-Modus und in den Zwang zu reagieren. Das kann wieder zu Unzufriedenheit führen.

 

Liegt das auch daran, dass die Menschen immer ungeduldiger werden? Man erwartet rasche Antworten auf E-Mails, Whatsapp-Nachrichten…
Weil es technisch möglich ist, knüpfen sich daran bestimmte Erwartungen, zum Beispiel an Reaktionszeiten. Dadurch entstehen Beschleunigungszirkel und Spielregeln, was etwa die Antwortzeit auf eine E-Mail betrifft. Ich rate dazu, sich nicht auf dieses Spiel einzulassen, immer sofort auf alles reagieren zu müssen.

 

Dennoch ist es schwer, nicht aufs Handy zu schauen, wenn es wieder einmal vibriert…
Wir sind machtlos gegen das Belohnungszentrum im Gehirn: Wir sehen, es kommt etwas rein, und schon drängt es uns, nachzuschauen. Um das zu ignorieren, muss man schon sehr viel Energie aufwenden, die einem dann bei der eigentlichen Tätigkeit fehlt. Daher die Faustregel: Vermeiden Sie Situationen, indenen Sie sich selbst kontrollieren müssen.

 

Das klingt fast nach Digital Detox.
Das kommt hin. Denn dadurch, dass scheinbar die ganze Welt auf dem Smartphone verfügbar ist, fehlt es uns an responsiven Erfahrungen – es fehlen die Beziehungen zwischen mir und meiner Umwelt, meinen Mitmenschen, also all das, was ein gelungenes Leben ausmacht. Es geht um Resonanz und Wirksamkeit: Wenn man ganz bei sich ist, das kann beim Sport sein, bei einer ehrenamtlichen Tätigkeit, dann hat man ein gutes Gefühl, ein positives, erfüllendes Erlebnis. Wenn man sich immer nur oberflächlich mit Dingen beschäftigt, etwa stundenlang Youtube-Videos anschaut, dann stellt sich dieses Gefühl nicht ein. Drastisch gesagt, handelt es sich dabei um eine lebensverkürzende Maßnahme, weil uns das Leben dadurch kürzer vorkommt.

 

Wie meinen Sie das?
In diversen Studien wurde belegt, dass unsere Zeitwahrnehmung paradox ist. Im Urlaub erscheint uns die Zeit im Erleben kurz, aber in der Rückschau lang. Im Wartezimmer beim Zahnarzt ist es genau umgekehrt. Wenn man nun oberflächlich und sprunghaft unterwegs ist, dann stellt sich ein anderes Muster ein, nämlich kurz-kurz. Im Erleben kurz und in der Rückschau auch. Wenn mein Leben voll von solchen Tagen ist, vergeht es gefühlt viel schneller.

Resonanz ist zudem nicht immer verfügbar. Man kann sie nicht buchen. Um wieder auf das Wetter zu kommen: Die leuchtenden Augen der Kinder, wenn der erste Schnee fällt, dieser Moment der Freude, er kann nicht auf Knopfdruck herbeigeführt werden. So in etwa verhält es sich mit dem Resonanzgefühl. Man weiß nie, wann es sich einstellt, es ist aber ein tolles Gefühl, wenn es soweit ist. Die Unverfügbarkeit macht die Magie aus.

 

Bei Kindern fällt auf, dass sie Langeweile nur schwer aushalten. Warum ist das so?
Ich behaupte: Das geht nicht nur Kindern so. Langeweile muss man zulassen können. Das kann schon eine Herausforderung sein. Wenn es dann gelingt, ist sie im Idealfall das Tor zur Muße.

 

Dennoch heißt es: Müßiggang ist aller Laster Anfang.
Das hat uns die protestantische Ethik eingebrockt. Da sind die Österreicher ja gefeit. Jedes Mal wenn ich in Wien bin, habe ich den Eindruck ihr Österreicher geht mit Zeit etwas entspannter um.

 

Danke. Aber vielleicht liegt das daran, dass Sie die Stadt als Tourist erleben?
Aber ich komme auch nach Frankfurt als Tourist und habe den Eindruck, dass dort eine andere Geschwindigkeit herrscht. Robert Musil beschreibt Wien im „Mann ohne Eigenschaften“ so treffend als eine Stadt, die nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam ist. Jedenfalls würde ich mich eher Christa Wolf anschließen, die sagt: „Müßiggang ist aller Liebe Anfang.“

Gibt es denn eine allgemeingültige Definition dafür, was Zeit ist?
Nein. Es gibt viele verschiedene Erklärungen. Wir sagen immer ein bisschen scherzhaft, die Einzigen, die eine genaue Definition von Zeit haben, sind die Germanisten: Zeit ist ein einsilbiges Wort. Das ist zwar richtig, man kann aber nicht allzu viel damit anfangen. Die Physiker sagen, Zeit eine hartnäckige Illusion, für Theologen ist Zeit der Anlauf zur Ewigkeit…Der Ökonom sagt: Zeit ist Geld.

 

Letzterem wird in der westlichen Welt wohl jeder zustimmen.
Diese Formel stammt von Benjamin Franklin. Und: Ich stimme nicht zu. Jeder, der sich näher damit befasst, wird erkennen, dass Zeit weit mehr ist als Geld. Fragt man ältere Menschen, so werden die meisten bestätigen, dass es in der Lebenszeit auf mehr als auf Geld ankommt. Außer man möchte die reichste Leiche auf dem Friedhof werden.

 

Es besteht allerdings ein gewisser Zwang, die Zeit „sinnvoll“ zu nutzen.
„Sinnvoll“ heißt in unserem Kulturkreis „produktiv füllen“, im Sinne der Wertschöpfung. Sinnvoll nutzen könnte auch ja sein, sich unter einen Baum zu setzen, und den Blättern beim Wachsen zuzuschauen. Sinn ist schließlich etwas, das jeder für sich definieren muss. Dieses Feld sollte man nicht nur dem Kapitalismus überlassen.

 

Wie erklärt man das einem Schichtarbeiter, der vermutlich wenig Gestaltungsfreiheit hat?
Deshalb ist es mir auch wichtig zu erwähnen, dass es prekäre Arbeitsverhältnisse gibt, wo sich meine Ratschläge unter Umständen zynisch anhören, weil dort die Gestaltungsräume extrem eingeschränkt sind. Ein Paketbote, der nebenbei noch als Tellerwäscher jobbt, um sich über Wasser zu halten, braucht bestimmt keinen Zeitratgeber. Hier kommt das Thema bedingungsloses Grundeinkommen ins Spiel. Das würde vermutlich eine riesige Veränderung vor allem im Niedriglohnsektor mit sich bringen.

 

Wenn es den Mensch nicht gäbe, gäbe es dann die Zeit?
Ich weiß es nicht. Es gibt Kulturen, die haben gar keinen Begriff für Zeit in ihrer Sprache entwickelt, weil es dafür keine Notwendigkeit gibt. Man war Teil des Kreislaufes von Werden und Vergehen. Wir können die Zeit nicht so erfassen, wie wir den Raum erfassen können. Ein kluger Mensch hat einmal gesagt: „Zeit ist eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Philosophen“. Seit 2000 Jahren arbeiten sich die Philosophen an dem Thema ab, aber keiner kommt auf einen grünen Zweig. Es geht immer weiter. Die Zeit sind wir los, wenn wir auf dem Friedhof liegen. Wir sollten uns an ihr aufrichten und nicht an ihr abarbeiten. Wir sollten nicht versuchen mehrere Leben in einem Leben zu leben, denn dann kommen wir gar nicht erst dazu, dieses eine, das wir haben, richtig zu leben.

 

Schauen Sie noch auf die Uhr?
Ich trage keine Uhr. Dennoch schaffe ich es zum Beispiel bei Vorträgen immer pünktlich fertig zu werden.