06.08.2017

Wie nutzt man seine Lebenszeit richtig? Ist Arbeit doch Zeitverschwendung? Und kann man mehr Zeit im Leben bekommen? Der Zeitforscher Jonas Geißler gibt Antworten. 

 

Herr Geißler, was ist aktuell das dringlichste Problem in der Zeitforschung?

Jonas Geißler Die Vieldeutigkeit. Also, dass es heutzutage kein eindeutiges richtig oder falsch mehr gibt. Wir haben mehr Möglichkeiten unsere Zeit zu füllen, als jemals zuvor.

Aber ist das nicht positiv?

Geißler Sicher auf der positiven Seite bedeutet das mehr Freiheitszuwachs. Wir haben mehr Welt in Reichweite. Das heißt, ich könnte morgen Abend schon in Sydney sein, ein Bier trinken und dabei trotzdem ein Interview mit Ihnen führen. Das ist ein großer Luxus. Aber auf der Schattenseite bedeutet es auch, dass der Alltag permanent an Erwartungen geknüpft ist.

Man steht also unter Druck ständig spektakuläre Dinge zu tun?

Geißler Zumindest steht man unter Druck, ständig Entscheidungen zu treffen. Man muss sich permanent Fragen, welche der vielen Möglichkeiten man nutzt. Damit sind auch Erwartungen an die Umwelt geknüpft, etwa durch die sozialen Medien und die neuen Kommunikationssysteme wie WhatsApp mit denen man jeder Zeit in Kontakt stehen kann. Das kostet Geld, Zeit und Nerven.

Welche Folgen hat das?

Geißler Die Quantität der Entscheidungen wächst, aber es wird schwieriger, qualitativ gute Entscheidung zu treffen. Das Zeitgefühl vieler Menschen wird durch das Getrieben sein von Entscheidungen bestimmt. Dem Eindruck: ‘Ich werde dem nicht gerecht. Ich schaffe das nicht.’ Und das ist ein immenses Problem. Denn Studien dazu, was Menschen im Beruf gesund hält haben gezeigt, dass es vor allem Selbstwirksamkeit und Sinnerfahrung sind. Wenn ich aber immer das Gefühl habe, dass ich die Masse, die anfällt nicht bewältigen kann, habe ich den Eindruck nicht viel bewirken zu können.

Ist Arbeit also Zeitverschwendung?

Geißler Nein, das würde ich nicht sagen. Im Gegenteil, wenn Menschen darüber nachdenken ihre Freizeit zu erhöhen oder ein Sabbatical einzulegen, sollten sie sich auch immer fragen, wie viel Stress und Herausforderungen sie brauchen, um sich gut zu fühlen. Denn wenn das reine Nichtstun gut für uns wäre, müssten Arbeitslose ja die glücklichsten Menschen sein. Das umgedrehte ist jedoch der Fall. Der Grund dafür ist, dass Arbeit mit dem Gefühl der Sinnerfüllung zu tun hat. Und Sinn ist wichtig für den Menschen.

Wie kommt hier nun die Zeit ins Spiel?

Geißler Die Zeit kann ein großer Helfer sein, indem man sich klar macht, dass man sie selbst gestalten kann. Das vergessen viele über den stressigen Alltag. Tatsächlich habe ich aber die Macht zu entscheiden, wie ich meine Zeit verbringen will. Damit werden die Dinge viel greifbarer. Denn natürlich kann ich mir immer wünschen Gitarre zu spielen oder joggen zu gehen, aber wenn ich mich frage, ob es mir das Wert ist, dafür Zeit aufzubringen – oder ob das vielleicht mit meinem Tagesablauf gar nicht vereinbar ist – macht das vieles klarer.

Die Menschen verlernen also, ihre Zeit zu nutzen?

Geißler Nichts existiert außerhalb der Zeit. Also nutzen die Menschen sie automatisch. Aber sie für sich selbst gut zu nutzen, das wird schwieriger. Immer mehr geraten in eine Art rasenden Stillstand. Man macht tausend Dinge, am besten alle sofort und schaut deshalb nicht mehr richtig auf das Detail. Also darauf, was man selbst wirklich will oder auch, was der Kunde jetzt wirklich braucht, oder wie die Aufgabe wirklich gut zu erledigen wäre. Man reagiert mehr, als das man agiert.

Das klingt nach dem Sprichwort: “Man muss langsam gehen, um schnell zu sein.”

Geißler Nein, dem würde ich nicht unbedingt zustimmen. Man muss nicht alles verlangsamen. Geschwindigkeit kann auch etwas sehr nützliches sein. Krankenwagenfahrer dürfen nicht langsam sein, beispielsweise. Es geht mehr darum zu lernen, eine Zeit-Vielfalt zu schaffen.

Wie meinen Sie das?

Geißler Stellen Sie sich einen Bergsteiger vor, der sprintet auch nicht von unten auf einen 8000er-Berg hoch. Er käme sonst gar nicht oben an. Damit er das schafft, muss er wissen, wann er langsam gehen muss und wann es an der Zeit ist, sich zu beeilen, weil die Nacht anbricht. Er muss aber auch wissen, wann er Pausen braucht, um sich zu regenerieren, wann er warten muss, um zum Beispiel das Wetter zu beobachten und über den nächsten Abschnitt nachzudenken. Das gleiche lässt sich auf den Alltag übertragen. Zu merken, was wann angesagt ist, nennen wir Zeitkompetenz.

Was verändert sich, wenn man das lernt?

Geißler Ich erlebe das beispielsweise oft bei Managern. Sie meinen immer, wenn man die Dinge nur richtig strukturiert und organisiert, dann klären sich die Probleme schon. Sie wollen eben managen. Tatsächlich ist es aber keine Frage der Organisation, sondern davon die Zeit so zu gestalten, dass die eigene Fähigkeiten wieder wirksam werden.

Und wie macht man das?

Geißler Man sollte viel mehr Dinge nicht tun. Wir sollten also wieder lernen, Dinge zu verpassen. Es gibt ein Buch zum Thema IT-Management, darin steht die Prämisse: ‘Man soll die Menge der nicht-erledigten Dinge maximieren’. Das trifft es sehr gut. Anstatt den Tag bis aufs letzte voll zu stopfen, sollte man lernen die Zeiträume, die man sich für etwas nimmt wieder wertzuschätzen. Dafür eignet sich eine “Let-it-be”-Liste, anstatt der berühmten “To-Do”-Liste. Auf die schreibt man auf, was man alles weglassen wird.

Das ist im Arbeitsalltag natürlich nicht immer leicht. 

Geißler Das stimmt. Aber Mitarbeiter, die zu viel machen und keine Aufgabe richtig konzentriert angehen, kosten das Unternehmen tatsächlich Geld. Dazu gibt es Berechnungen. Sie machen Fehler, sie brauchen insgesamt mehr Zeit für eine Aufgabe und müssen vielleicht immer wieder dran gehen. Eine Analyse zeigt, dass Mitarbeiter in Großraumbüros alle sieben Minuten von der Arbeit abgelenkt werden. Das ist ungefähr so, als ob ein Marathonläufer sich alle sieben Minuten die Schnürsenkel zubinden müsste.

Gibt es noch andere Möglichkeiten?

Geißler Eine gute Übung ist, sich jeden Abend aufzuschreiben für welche Tagesereignisse man dankbar ist. Das zeigt einem, was man selbst bewirken kann, was sich im Leben alles verändert und das wiederum wirkt lebensverlängernd, weil es uns zeigt, dass nicht jeder Tag gleich ist.

Man kann damit auf die Dauer der Lebenszeit einwirken?

Geißler Auf die gefühlte Lebenszeit, ja. Das geht auf das Zeit-Paradox zurück. Das besagt, dass wenn wir nichts Neues erleben, die Zeit im Erleben lang und in der Rückschau kurz wirkt. Umgedreht, wirkt die Zeit im Erleben kurz und in der Rückschau lang, wenn viel Spannendes los ist.

Das bedeutet für den Alltag?

Geißler Das bedeutet, dass es wichtig ist, viel Neues zu erleben, um das Gefühl eines langen Lebens zu haben. Es muss auch nicht spektakulär sein. Wer nach Mailand fährt und das Gefühl hat, es sieht dort aus wie in Barcelona, hat auch den Effekt, dass die Zeit in der Rückschau verblasst.

Was macht man also?

Geißler Es geht um eine lustvolle Experimentierhaltung sich selbst gegenüber: Mal einen anderen Weg zur Arbeit nehmen beispielsweise. Oder man beginnt das Meeting mit einer Minute Schweigen. Oder man startet morgens damit, dass man erstmal allen zur Begrüßung die Hand gibt. Ganz bewusst ohne Perfektionismus, sondern nur mit dem Zweck, Dinge einfach auszuprobieren und zu gucken, was passiert. Das wirkt manchmal vielleicht komisch, aber man kann das der Umwelt gegenüber genauso kommunizieren.

Es heißt immer, man sollte sich mehr Zeit zum Leben nehmen. Müsste man sich also eigentlich mehr Zeit zum Experimentieren nehmen?

Geißler Wer sich mehr Zeit zum Experimentieren nimmt, hat auf jeden Fall mehr vom Leben. Aber die Zeit zum Leben ist natürlich jeden Tag gleich, man bekommt sie ja jeden Tag nach. Wichtig ist mehr die Frage, wie viel Souveränität man in seinem Leben haben will. Brauche ich viel Struktur und Planbarkeit oder mehr Flexibilität?

Wie meinen Sie das?

Geißler Manche Menschen fühlen sich wohler, wenn sie Fahrpläne haben nach denen sie sich richten können und die ihnen Entscheidungen abnehmen. Heute in der Postmoderne tendiert aber alles zum Hyperloop. Der Zug ist so schnell, dass er inzwischen auf Anfrage kommt. Ich muss mich nicht mehr nach einem Fahrplan richten. Das kann viel Stress bedeuten: Fahre ich jetzt oder erledige ich erst noch etwas? Man kann dem nur begegnen indem man lernt, die Angebotswelle zu surfen – und indem man sich fragt, in welchen Situationen Verbindlichkeit oder Flexibilität zum Problem für einen werden.

Sie reden immer wieder davon, dass man sich zu stark verausgabt. Aber gehören Stress und Zeit nicht untrennbar zusammen?

Geißler Nein, nicht zwingend. Man kann viel tun und trotzdem keinen Stress haben oder positiven, also Eu-Stress, empfinden. Und Stress hat auch seinen Zweck.

Nämlich welchen?

Geißler Viele fühlen sich attraktiver, wenn sie sagen können, dass sie Stress haben. Denn in unserer Gesellschaft ist das ein Zeichen dafür, dass man zu den erfolgreichen Menschen dieser Welt gehört. Außerdem ist Stress ein Mittel zur Abgrenzung. Wenn ich gestresst bin, kann ich mit Fug und Recht sagen, dass ich eine Aufgabe nicht übernehmen oder mit jemandem gerade nicht reden kann.

Ist Pünktlichkeit in dieser Post-Moderne noch wichtig?

Geißler Pünktlichkeit hat ja nichts mit der Zeit zu tun. Es ist vielmehr eine gesellschaftliche Moralvorstellung, die besagt, dass man sich in unseren Breitengraden an die Uhrzeit zu halten hat. Interessant ist daran vor allem, dass wir uns heutzutage immer weniger an der Uhrzeit orientieren und immer mehr am Smartphone. Deshalb sind wir in der Regel auch nicht sauer, weil jemand zu spät ist, sondern, weil er nicht Bescheid gesagt hat, dass er zu spät sein wird. Zeitlich bedeutet das nur einen höheren Koordinationsaufwand.

(ham)