Interview mit Jonas Geißler, Welt kmpkt, 30.10.2019, von Kim von Ciriacy

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„Die Zeit fliegt.“ Diesen Satz hört man immer wieder. Im Interview erklärt uns Zeitexperte Jonas Geißler, wieso es uns oftmals so vorkommt, als würde die Zeit schnell vergehen. Warum es wichtig ist, Dinge bewusst nicht zu tun.

Die vergangene Woche habe ich komplett ohne Uhrzeit gelebt. Ob mein Leben dadurch vollständig aus den Fugen geraten ist, das siehst du oben im Video. In diesem Interview wollen wir nun einmal etwas genauer auf die Zeit als solche blicken. Ich habe mit dem Organisationsberater und Experten für Zeit, Jonas Geißler gesprochen.

Er verrät uns, warum wir am Ende des Jahres immer das Gefühl haben, dass es so schnell verflogen ist, was der Fehler an To-do-Listen ist und warum wir Zeit nicht mit Uhrzeit verwechseln sollten.

 

WELT: Hallo, Jonas Geißler. Wir steigen direkt ein. Jetzt ist das Jahr bald schon wieder zu Ende. Da denkt man oft, dass die Zeit so schnell vergangen ist. Woran liegt das?

Jonas Geißler: Das hat mehrere Gründe. Ein Grund ist zunehmendes Alter und das Sammeln von Erfahrungen. Wir leben in einer Welt, in der wir sehr reich an Erfahrungen sind. Wir haben mehr Möglichkeiten, Erfahrungen zu sammeln, als jede Generation vor uns. Ich kenne Menschen, die sind 25 und waren auf allen Kontinenten, sprechen viele Sprachen und haben ein hohes Bildungsniveau. Der Nachteil daran ist: Wenn man schon viele Erfahrungen gesammelt hat, kann im Leben nicht mehr viel Neues passieren. Es ist dann immer „wie in …“. Ein Beispiel: Ich stehe am Meer in Frankreich und denke mir: „Ach, das ist ja wie in Kalifornien.“ Gefühlt passiert also nichts Neues.

Wenn wir etwas Neues erleben, dann vergeht die Zeit im Erleben meistens kurz und in der Rückschau lang. Wenn wir im Wartezimmer beim Zahnarzt sitzen, ist es umgekehrt. Dort vergeht die Zeit im Erleben lang und in der Rückschau kurz.

WELT: Und der andere Grund?

Geißler: Das zweite Phänomen prägt unsere heutige Zeit. Wenn wir stark an der Oberfläche unterwegs sind, also sehr sprunghaft in der Aufmerksamkeit sind und viel Kleinkram erledigen, dann entsteht das Zeitwahrnehmungsmuster „kurz kurz“. Dazu zählt beispielsweise das Wischen auf dem Smartphone, im Fernsehen herumzuzappen oder 35 Tabs im Browser offen zu haben. Diese Zeit vergeht im Erleben schnell und am Ende des Tages bleibt auch nichts Wesentliches, weil man nicht wirksam geworden ist.

Wenn man so will, sind das lebensverkürzende Maßnahmen. Zumindest was unser Zeitgefühl angeht.

WELT: Hast du ein paar Tipps, wie man nicht in diese Fallen gerät? Es also schafft, dass einem die Zeit in der Rückschau nicht so kurz vorkommt? Ohne jede Woche woanders hinreisen zu müssen …

Geißler: Ich würde nicht versuchen, das Leben mit immer neuen Impulsen zu füllen. Das würde in Stress ausarten. Es geht eher darum, neugierig für das zu bleiben, was schon besteht. Also, im immer Gleichen das Neue zu entdecken. Zudem sollte man wirksam sein, sich also Wirksamkeitserfahrungen schaffen. Wenn ich ins Büro gehe und als Erstes meine Mails abrufe, dann ist die Gefahr groß, dass ich den ganzen Tag in diesem „Schnell, schnell, ich mache mal eben hier, mal eben da was“-Modus bin. Dann komme ich aus dieser Dringlichkeitssucht meist auch nicht mehr raus.

Einen Unterschied mache ich, wenn ich meinen Tag mit einer wesentlichen Aufgabe beginne, die auch mal eine Halbe-, Dreiviertel- oder ganze Stunde dauern kann. Die Energie, etwas Wesentliches bewirkt zu haben, kann mich durch den ganzen Tag tragen.

WELT: Ich habe gelesen, dass du kein großer Fan von To-do-Listen bist. Warum?

Geißler: Manchmal helfen To-do-Listen und das ist auch okay. Gleichzeitig wird die Kraft des Weglassens und des Seinlassens zunehmend wichtiger. Schließlich haben wir immer mehr Optionen, können jedoch weiterhin nur die gleichbleibende Menge an Informationen aufnehmen und verarbeiten. Wir werden also immer mehr verpassen und weglassen müssen. Eine Let-it-be-Liste kann helfen, dass man das mit gutem Gewissen tun kann. Auf die schreibt man alles, was man nicht tut, von dem man sich befreien kann. Man erledigt diese Liste, indem man es lässt. Das ist ein wenig wie bei Marie Kondo. Ich überlege mir: Brauche ich das wirklich?

WELT: Ist es auch gut, mal Langeweile zu haben?

Geißler: Ja, die Langeweile ist das Tor zur Muße. Wenn ich durch die Langeweile durch bin, dann kommt vielleicht die Muse und küsst mich. Und das sind sehr inspirierende Momente. Sie sind aber unverfügbar. Die wesentlichen Momente im Leben sind Momente und Ereignisse, über die wir nicht verfügen können. Ich kann ja nicht sagen: „Jetzt habe ich mal eine Viertelstunde Langeweile und danach küsst mich die Muse.“ Das kann ich genauso wenig sagen wie: „Morgen Nachmittag treffe ich die Liebe meines Lebens.“ Das sind Dinge, die sind unverfügbar und darin liegt ihr Reiz.

WELT: Jedes Jahr stellen wir zweimal die Uhr um. Was hältst du von der Uhrumstellung?

Geißler: Was ich an dieser Uhrumstellung sinnvoll finde, ist, dass man zweimal im Jahr daran erinnert wird, dass Uhr und Zeit nicht das Gleiche sind. Und dass man sich zweimal im Jahr ein bisschen mit der Zeit befasst.

WELT: Passiert das oft, dass Menschen die Zeit mit der Uhrzeit gleichsetzen?

Geißler: Ja, das liegt daran, dass es in unserer Gesellschaft historisch stark geprägt ist, dass Zeit gleich Uhrzeit bedeutet. Dann heißt es: Zeit ist das, was die Uhr anzeigt. Aber dass das nicht alles ist, merken wir daran, dass viele Leute sagen: „Nein, Zeit ist das, was man hat, wenn man die Uhr wegschmeißt.“ Die Uhrzeit wurde ja auch mal erfunden. Schließlich gab es ja auch mal eine lange Zeit ohne Uhrzeit.

WELT: Dein Vater forscht auf dem Gebiet der Zeit und lebt seit über 30 Jahren ohne Uhr. Ist es da schwierig, Termine auszumachen?

Geißler: Er hat auch kein Mobiltelefon. Wenn er am Computer schreibt, dann hat er die Uhr nicht abgeklebt, er kann also drauf schauen. Aber ich glaube, er ignoriert sie weitestgehend. Die Uhr spielt keine wesentliche Rolle in seinem Leben. Das liegt jedoch an seiner Lebenssituation und ist sicher kein Modell für jedermann. Aber für ihn, der sich in seinem Berufsleben damit befasst hat, Wissen zu schaffen, Leute zu beobachten, darüber zu schreiben und die Langweile zu durchschreiten, um danach gute Ideen zu haben, ist das ein guter Umgang mit Zeit. Und für mich hilfreich, weil er selten verplant ist und sich eigentlich immer Zeit für mich nimmt. Auch spontan.

WELT: Könntest du dir auch vorstellen, so zu leben?

Geißler: Nein, ich versuche rhythmusgerecht zu leben und gleichzeitig die Vorteile der Uhr zu nutzen. Ich mache viele Seminare und Workshops. Da bin ich froh, dass die Leute pünktlich kommen.

WELT: Noch zum Abschluss. Wenn jemand anfängt, ein paar Tage ohne Uhrzeit zu leben, was wird passieren? Und hast du einen Tipp?

Geißler: Was passieren wird, hängt vom jeweiligen Umfeld ab. Wenn das völlig veruhrzeitlicht und vertaktet ist, dann wirst du Irritationen auslösen, weil du zu spät kommen wirst. Da wäre es wichtig, dass du eine Gelassenheit und lustvolle Experimentierhaltung entwickelst. Nach dem Motto: Schauen wir mal. Ich könnte mir vorstellen, dass der eigene Rhythmus durchkommt, wenn man sensibel hinspürt. Und man dann eher rhythmisch arbeitet und gut merkt, wenn man eine Pause braucht. Beantworte dir mal die Frage: An welchen Zeitsignalen will ich mich orientieren, wenn nicht an der Uhr? Darauf kannst du dich schon mal einstimmen.