„Zeit ist Geld“ – gemäß diesem Motto versucht der Mensch, immer mehr in ein und derselben Zeiteinheit zu erledigen. Mit der Folge, dass Zeitnot, Druck und Hektik ständig zunehmen. Das muss nicht sein: Sie können aus dem Beschleunigungskreislauf ausbrechen.

 

Die Teilnehmer*innen meiner Seminare überrasche ich manchmal mit einem Experiment: Wenn die zweitägige Veranstaltung jeweils bis 17 Uhr geplant ist, höre ich am ersten Tag schon um 16 Uhr auf und schenke den Anwesenden eine freie Stunde. Diejenigen, die die Suche nach freier Zeit ins Seminar geführt hat, sind dann un- verhofft fündig geworden und sehen sich einer nicht unwesentlichen Frage gegenübergestellt: Was tun mit dieser freien Stunde?

Zu Beginn des nächsten Seminartages berichten die Teilnehmenden, was sie mit dem Zeitgeschenk angestellt haben.  Die meisten berichten, wie schwierig es war, die Zeit wirklich frei zu lassen, obwohl es das war, wonach sie sich lan- ge gesehnt haben. Der Wunsch nach freier Zeit scheint in unerfülltem Zustand – als Sehnsucht – attraktiver zu sein, als wenn er in Erfüllung geht. Stattdessen griffen die Teilnehmenden reflexartig auf altbewährte und eingeübte Muster zurück: Sie füllten die Zeit sofort mit Aufgaben – meist mit der Erklärung, dadurch etwas zu erledigen, was dann in einer nahen Zukunft zu freier Zeit führen würde. Man kann hieran deutlich unsere internalisierten kulturellen Muster im Umgang mit Zeit erkennen: „Leere Zeit gilt es zu füllen, nur gefüllte Zeit ist sinnvoll genutzte Zeit.“ Aber ist gefüllte auch erfüllte Zeit?

Wir alle können diese Übung in unserem Alltag ausprobieren. Jeder kennt die Situation, dass Termine ausfallen oder verschoben werden. Manch einer übt sich sogar darin, diesen Zustand künstlich zu erzeugen, indem Terminblocker im Kalender platziert werden, die dann frei und ohne Verpflichtungen sind. In der einschlägigen Ratgeberliteratur nennt sich das dann „Termin mit sich selbst“. Meistens sollen diese Zeiträume allerdings dazu dienen, Aufgaben zu erledigen, die sonst liegen bleiben oder ein hohes Maß an Fokus und Konzentration benötigen. Dies kann ein probates Mittel sein, doch es folgt dem immer gleichen Muster, vermeintlich gesparte Zeit wieder zu „investieren“. Dieses Muster ist uns derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass uns seine Absurdität gar nicht mehr auffällt: Wir opfern den Augenblick zugunsten einer ungewissen Zukunft. Man könnte das als hoffendes „Zeithamstern“ bezeichnen – lieber jetzt die Zeit nutzen, um dann vielleicht in Zukunft freie Zeit zu haben. Gleichzeitig spüren wir nur allzu oft die Ambivalenz, die dieses Verhalten erzeugt, wenn wir davon träumen, endlich einmal wieder Zeit zu haben, oder uns bei Kollegen oder Freunden darüber beschweren, wie wenig Zeit wir doch gerade haben.

Wenn wir uns fragen, wo der häufig verspürte Drang zum Füllen der Zeit herkommt, landen wir bei jenem Spiel, das wir einüben, seit wir angefangen haben, im großen Stil Zeit in Geld zu verrechnen: dem Beschleunigungskreislauf (siehe Abbildung Seite 20). Das Spiel und seine Regeln lassen sich recht einfach erklären. Wir alle kennen es, weil wir ständige Mitspieler*innen sind:

Verrechnen wir Zeit in Geld, so geben wir bestimmten Tätigkeiten in der Zeit einen Wert (Station 1 im Beschleunigungskreislauf). Beschleunigen wir nun die Art und Weise, wie wir die Aufgaben erledigen – etwa, indem wir durch den Einsatz von Technologie schneller oder effizienter werden –, so erledigen wir die gleiche Anzahl von Tätigkeiten in weniger Zeit, was zu dem führt, das wir Zeitersparnis nennen (2). Theoretisch gäbe es an dieser Stelle die Möglichkeit, die frei gewordene Zeit frei zu lassen und sie als eigenen Zeitwohlstand zu definieren (3). Teilweise geschieht dies auch, etwa wenn Menschen ihre Arbeitszeiten reduzieren oder Urlaub und Freizeit ausweiten. Aus der „Zeit ist Geld“-Logik heraus ist Abzweigung im Beschleunigungskreis allerdings ein Bruch. Geld kennt kein Genug. Daher wird frei gewordene Zeit stattdessen mit zusätzlichen Tätigkeiten gefüllt, um immer mehr in der gleichen Zeit zu erledigen (4 + 5). Hierdurch wird die Zeit wertvoller – sie „ungenutzt“ zu lassen, erscheint absurd. Gleichzeitig erhöht sich die empfundene Zeitnot der Protagonist*innen (6), weswegen der Bedarf an weiteren Zeitspartechniken und entsprechenden Technologien steigt (7). Und so schließt sich der Kreislauf, der einerseits die Grundlage für die vielfach empfundene Hetze und Zeitnot ist, andererseits aber natürlich auch für unseren Geld- und Güterwohlstand und unsere zivilisatorischen Errungenschaften im sogenannten globalen Norden.

Auch die Umwelt bekommt unseren Beschleunigungswahn zu spüren: Erledigen wir mehr in derselben Zeit, ist dies fast immer mit einem erhöhten Energieverbrauch verbunden. Auch wenn Beschleunigungstechnologien immer effizienter werden, sorgt deren vermehrte und verdichtete Nutzung dafür, dass die Effizienzgewinne sofort zunichtegemacht werden – wir sprechen hierbei von sogenannten Zeit-Rebound-Effekten. Am Ende entsteht nicht nur subjektiv empfundene Zeitnot, sondern auch eine sehr schlechte Energiebilanz, für die die Natur zur Kasse gebeten wird. Unser Umgang mit Zeit und unsere kulturell geprägten Vorstellungen von Zeit haben also einen direkten Einfluss auf unseren ökologischen Fußabdruck. Neben politischen Rahmenbedingungen und dem Engagement von Unternehmen und Organisationen hat jede*r von uns die Möglichkeit, durch Veränderungen hin zu nachhaltigem Zeitverhalten hier anzusetzen und öfter mal an Position 3 des Kreislaufs abzubiegen.

Das Schöne daran: Von den zeitlichen Auswirkungen profitieren wir auch persönlich, denn ein Ausstieg aus dem Beschleunigungskreislauf schenkt uns echten Zeitwohlstand. Kernvoraussetzung dafür ist, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden, nur maximal ausgenutzte Zeit wäre gute Zeit. Gesagt, getan? Genau an dieser Stelle hakt es leider oft. Aus der Nachhaltigkeitsforschung wissen wir, dass die Lücke zwischen Wissen und Handeln oft schwer zu schließen ist, weil die Auswirkungen der Veränderungen nicht selbst erlebt werden. Häufig hat man das Gefühl, man verzichte auf Komfort zugunsten von jemandem und etwas, das woanders und wannanders stattfindet. Die Folge ist, dass die Effekte des eigenen nachhaltigen Verhaltens nicht als positiv erlebt werden und man schnell in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Bei der Überwindung dieser Abstraktionslücke kann die Zeitbrille helfen: Der persönliche Nutzen in Form von Zeitwohlstand, Zeitsouveränität und der daraus resultierenden Zufriedenheit, Ge- sundheit sowie dem entlastenden Gefühl der Genügsamkeit wird am eigenen Leib und unmittelbar erlebt. Jeder persönliche Akt, die Zeit nicht reflexartig zu füllen, um noch mehr in sie hineinzustopfen, noch mehr zu konsumieren, zu produzieren, zu kommunizieren, kann dann als Akt nachhaltigen Handelns und zugleich als Befreiung gedeutet werden.

In der konkreten Umsetzung kann dies bedeuten, frei werdende Zeit, wie in unserem Beispiel aus dem Seminar, eben nicht reflexartig mit Aufgaben zu füllen, sondern der gelebten Zeitvielfalt den Raum zu öffnen. Kommen Sie ins Ausprobieren, ins Experimentieren. Spontan frei gewordene Zeit bietet zum Beispiel Augenblicke für Jetzt-Erfahrungen. Die lange Weile ist das Tor zu Muße, die Langsamkeit lädt ein zur Selbstgenügsamkeit. Vielleicht ist auch ein kleines Nickerchen angesagt oder der Blick in den Himmel, eine kurze Meditation oder Besinnung auf den eigenen Körper und seine Bedürfnisse. Oder vielleicht auch einfach die Kraft des Seinlassens – gemäß dem Leitspruch „Es ist erstaunlich, wie viel Unheil durch Nichtstun schon verhindert wurde“. Auf diese Weise entstehen kleine Zeitbiotope: Zeiträume, in denen sich eine Vielfalt von Zeitformen entwickeln kann und Zeiterfahrungen jenseits der Beschleuni- gung gemacht werden können.

Die Rechnung dazu ist eigentlich ganz einfach: Zeiten der Beschleunigung, Verdichtung und Wertschöpfung sind mit Energie hinterlegt. Sie verbrauchen Ressourcen, und diese sind leider zu einem Großteil immer noch fossiler Art. Jede Zeit, die ich als Individuum damit verbringe, mir selbst etwas Gutes zu tun und gleichzeitig zur Erhaltung der natürlichen Ressourcen beizutragen, ist demnach ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Das entbindet uns si- cherlich nicht davon, politische Verantwortung wahrzunehmen und die notwendigen Rahmenbedingungen für eine gesamtgesellschaftlich nachhaltigere Zeitkultur zu schaffen. Dennoch: Auf individueller Ebene ist das Dösen auf der Parkbank ein Akt nachhaltigen Handelns. Und gleichzeitig ist es ein kleiner Akt zivilen Ungehorsams – weil wir dadurch nicht einfach blind mitmachen und die eigene Lebenszeit der stetigen Beschleunigung opfern, sondern für uns selbst, die eigene Zeit-Zufriedenheit und zum Wohle der eigenen Um- und Mitwelt handeln.

Die Aufforderung zum zivilen Ungehorsam sollte nicht falsch verstanden werden. Es geht mir nicht darum, zu Straftaten anzustiften. Ich möchte an dieser Stelle aber den Gedanken anstoßen, ob die Art und Weise, wie wir mo- mentan leben und wirtschaften, nicht der viel größere Ungehorsam im Sinne von Unverantwortlichkeit ist, da dadurch viele Mitmenschen und unsere natürliche Lebensgrundlage (und die unserer Kinder) massiv zu Schaden kommen. Hierbei nicht mitzumachen und gleichzeitig den Nutzen des Zeitwohlstands erleben zu dürfen, ist eine Form des Zeit-Ungehorsams, die im besten Falle derart attraktiv ist, dass Sie gerne gleich damit anfangen können.