Interview mit Jonas Geißler in: Standort38 – das Entscheidermagazin für die Region

Zeitforscher Jonas Geißler über rasenden Stillstand, richtiges Selbstmanagement und die wichtigsten Ressourcen der Zukunft

 

Herr Geißler, frech gefragt: Bestimmen wir unsere Zeit oder bestimmt sie nicht viel mehr uns?

Die Zeit selbst können wir nicht bestimmen. Sie ist einfach da, ob wir wollen oder nicht. Und jeden Tag kommt neue nach, gleich viel für jeden. Man kann viel darüber philosophieren, aber wir wissen bis heute nicht, was man allgemeingültig unter Zeit verstehen soll und haben ganz unterschiedliche Vorstellungen entwickelt. Je nachdem, wen Sie fragen, bekommen Sie unterschiedliche Antworten. Physiker sagen: Zeit ist eine Verlaufs- oder Rechengröße. Der Ökonom sagt: Zeit ist Geld. Fest steht: Wir können unsere Tätigkeiten gestalten, die Zeit aber können wir nur leben.

Die Frage ist nur, wie…

Momentan sind wir sehr reich an Möglichkeiten, unsere Zeit zu verbringen. Aber je mehr möglich ist, desto mehr müssen wir sein lassen. Das wird eine Herausforderung und eine zunehmend wichtigere Kompetenz: Kompetenz im Verpassen und Verzichten. Das bedeutet, dass wir nicht die Zeit verändern müssen, sondern unsere Entscheidungen.

Wie schaffe ich diesen Schritt und welche Anforderungen stellt das an mich?

Zunächst ist das ein Bewusstwerdungsprozess. Schauen Sie sich selbst und Ihre Entscheidungsmuster an: Was ist Ihnen wichtig? Welche Gestaltungsspielräume gibt es? Dabei ist es wichtig, die rationale und die emotionale Perspektive zu berücksichtigen. Dann kann ich entscheiden, wo mein Entscheidungsverhalten förderlich, sprich erfolgreich, ist. Wenn Dinge gut laufen und wir stimmig zu unseren Motiven handeln, fallen sie häufig kaum noch auf. Wenn es dagegen hakt, kann man versuchen, das Entscheidungsverhalten bewusst zu verändern.

Also bedeutet Zeitkompetenz im Grunde Entscheidungsfähigkeit?

Richtig, aber man muss zwischen Zeitkompetenz und Zeitmanagement unterscheiden. Das klassische Zeitmanagement hat den Anspruch, alles so gut wie möglich zu ordnen und der Reihe nach durchzutakten. In der digitalisierten Multioptions-Welt greift dieses Modell zu kurz – jetzt heißt es, gleichzeitig und verdichtet arbeiten und dabei kluge Zeitentscheidungen zu treffen.

Dabei ist es ziemlich en vogue „keine Zeit zu haben“…

Das ist der kulturelle Code einer kapitalistischen Gesellschaft, die Zeit in Geld verrechnet. Wer keine Zeit hat, ist wichtig und erfolgreich. Weil es um den Wettbewerb geht, ist es attraktiv, das auch nach außen zu zeigen. Wer Zeit hat, ist erstmal verdächtig. Legen Sie im Büro doch mal die Füße auf den Tisch, dösen eine halbe Stunde und warten auf die Reaktion der Kollegen – vermutlich lösen Sie damit einige Irritationen aus. Dahinter steckt die Haltung, dass ich meine Arbeitskraft und damit Lebenszeit gegen Geld tausche. Nichts zu tun, diskreditiert diesen Deal. Was im Umkehrschluss dazu führt, dass es attraktiv ist, sogar für Hektik zu sorgen, um sich Zugehörigkeit zu sichern.

Hier muss man aber zwischen Arbeiten und Beschäftigtsein unterscheiden, oder?

Genau, Arbeit bedeutet ernsthafte Wertschöpfung. Beschäftigung meint kleinteilige Dinge, die dazwischen kommen. In vielen Unternehmen begegnet mir wahnsinnig viel Beschäftigtsein und ganz wenig Arbeit. Der Extremfall davon nennt sich rasender Stillstand. Jeder beschäftigt jeden, eine Mail hier und eine da, aber das Gesamtsystem kommt nicht voran. Spätestens dann wird es unternehmerisch riskant.

Wie gelingt der Absprung? Brauche ich dafür mehr Struktur oder mehr Freiräume?

Wenn ich das wüsste, wäre ich wohl der meistgefragteste Mann der Welt (lacht). Zunächst einmal kommt es auf den Gegenstand an, mit dem ich erfolgreich sein möchte. Bei der Reproduzierbarkeit von Prozessen brauche ich klare Strukturen, um die Qualität zu sichern. In kreativen Bereichen, wie der Innovationsförderung, muss ich mich von starren Modellen lösen. Zwischen 35 Mails und 15 Telefonaten fällt einem nicht allzu viel Neues ein. Es kommt auch auf den Preis der Struktur an: Wenn sie nur sehr aufwendig aufrecht zu erhalten ist, kann es häufig sinnvoller sein, sich der Komplexität zu öffnen, statt sie vermeiden zu wollen.

Können Sie das genauer erklären?

Man sollte Komplexität verhandeln, nicht Kompliziertheit. Im Rahmen der digitalen Transformation begegnet mir das häufig: Komplizierte Systeme kann man gut strukturieren, bei Komplexität kommt man damit nicht weit. Da kommt Intuition und Bauchgefühl als wichtige Ressource wieder ins Spiel. Sobald ich innoviere, muss der Geist wandern können. Im Team muss es Zeiten geben, in denen man sich zusammensetzt und auch mal rumspinnen kann, um dem Raum zu geben, was nicht vorhersehbar ist.

Sie sprechen häufig von Zeitvielfalt. Was bedeutet das in diesem Zusammenhang?

Es gibt verschiedene Zeitformen, es gibt Schnelligkeit und Langsamkeit, Anfänge, Übergänge und Abschlüsse. Wir folgen häufig dem Glaubenssatz, dass schneller immer besser als langsam ist. In der Postmoderne geht es darum, mit den verschiedenen Tempi umgehen zu können und sinnvolle Anfänge und Abschlüsse zu gestalten. Wartezeiten können wahnsinnig produktiv sein, weil mir plötzlich etwas einfällt, auf das ich sonst nicht gekommen wäre. Ich muss Pausen einplanen, mich akklimatisieren. Dabei gilt: Tue das Gegenteil von dem, was du während des Arbeitens tust. Dann ist der Erholungsfaktor am größten.

Der Begriff Muße scheint uns dabei abhanden gekommen zu sein…

Ja, und wenn wir gleichzeitig von Innovation reden, dann müssen wir fragen: Wann sind wir innovativ? In Zeiten der Ruhe, der Muße. Die Muße zu kultivieren, kann ein großer Produktivitätsfaktor sein. Oder einfach nur Freude machen.

Mit Arbeitszeitmodellen wird derzeit viel experimentiert, aber ist weniger tatsächlich mehr?

Kommt drauf an, für wen. Das wird ja nicht zum Selbstzweck gemacht. Es muss der Gesellschaftsbildung dienen. Um solche Angebote wahrnehmen zu können, muss man die Leute qualifizieren. Wenn es früher hieß, von neun bis siebzehn Uhr wird gear
beitet, diente das der Erziehung zur Pünktlichkeit. Das ist ein Auslaufmodell. Heute muss man für sich feststellen, in welchem Rhythmus man wirksam sein kann.

Wie finde ich die richtige Form des Zeitmanagements für mein Unternehmen?

Fragen Sie die Leute. Die wissen genau, wo es zeitliche Spannungen gibt. Über Großgruppenmethoden lassen sich Hotspots analysieren. Ich arbeite dabei mit einem Analysetool, das die Zeitlichkeit der Aufgaben und Prozesse unterscheidet und auch ungeschriebene Zeitgesetze und Ansprüche der Mitarbeiter mit einbezieht.

Welche Schwierigkeiten begegnen Ihnen dabei?

Ich erlebe häufig bei locker organisierten Start-Ups, dass sie plötzlich ins Straucheln geraten, wenn sie wachsen und Komplexität begegnen. Problematisch ist auch das Thema Entscheidungsfindung. Man muss differenzieren: Wie entscheiden wir und wie entscheiden wir, wie wir entscheiden? Da gibt es schöne Modelle, wie zum Beispiel das Konsent-Modell oder die konsultative Fallentscheidung. Man sollte sich dafür Zeit nehmen und es nicht implizit mitschleifen.

Ab welcher Unternehmensgröße besteht vermehrter Handlungsbedarf?

Zwischen 15 bis 20 Mitarbeitern beginnt sich die Dynamik einer Gruppe zu verändern. Da kann man dann nicht mehr alle im Blick behalten. Spätestens wenn ich nicht mehr weiß, wann Mitarbeiter dazugekommen sind, braucht es klare Strukturen, damit Informationsströme nicht abreißen und Verlässlichkeit in Prozessen gewährleistet werden kann.

Sind Start-Ups in puncto Zeitkompetenz besser und flexibler ausgerichtet?

Sie haben sicherlich mehr Freiheiten in der Zeitgestaltung. Große Unternehmen sind häufig unbeweglich. Viele junge Unternehmen nutzen diese Flexibilität aber gar nicht. Es heißt eher: Hey, wir haben eine megageile Idee und retten die Welt – lasst uns alle arbeiten bis zum Anschlag. Über Tarifverträge und Arbeitszeitregelungen wird da laut gelacht. Man wohnt dort quasi im Büro und arbeitet, bis alle reich und glücklich sind. Das kann Teil des Geschäftsmodells sein, ist aber eine sehr einseitige zeitliche Ausrichtung.

Agile Methoden versprechen effizientere Abläufe. Wie bewerten Sie das?

Der Begriff der Agilität wird oft falsch verstanden, obwohl er gerade in aller Munde ist; jeder möchte agil werden, ohne genau zu wissen, was das heißt. Scrum ist ein Beispiel für ein Rahmenwerk unterschiedlicher Zeitformen und im Grunde recht starr. Innerhalb dieses Rahmens kann dann beweglicher agiert werden. Bedeutet: Auch in der schnellen Welt brauchen wir feste Zeitelemente, die natürlich die Freiheit begrenzen. Aber Flexibilität braucht Stabilität, damit sie funktioniert.

So werden Sie zum Zeit-Experten

Nehmen Sie sich Zeit für die Zeit. Tappen Sie dabei nicht in die Falle, zu glauben, dass schnell besser als langsam ist. Pflegen Sie Zeiten der Selbstwirksamkeit und des kollegialen Austausches. Machen Sie Pause und lassen Sie Zeiträume unverplant.

 

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