Interview mit Karlheinz Geißler, ntv, 26.10.2019, von Vivian Micks

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Jahraus, jahrein wird darüber diskutiert, ob Uhren wirklich noch nach Sommer- und Winterzeit umgestellt werden sollten. Zeitforscher Karlheinz A. Geißler stellt sich diese Frage gar nicht – er hält die Uhr für überflüssig. n-tv.de sagt er, warum der allgegenwärtige Zeitmesser ein moderner Diktator sei und Mensch und Natur schade.

n-tv.de: Herr Geißler, Sie sind Zeitforscher – was halten Sie von der Zeitumstellung?

Karlheinz Geißler: Erst einmal ist es keine Zeitumstellung, sondern eine Uhrenumstellung. Die ist mitten in die Nacht gelegt, damit man davon gar nichts merkt. Ich bin kein Freund der Uhr. Alle Menschen leiden darunter, dass die Uhr uns von der Natur getrennt hat. Die Uhr ist eine mechanische Zeit und das hat uns Probleme beschert wie zum Beispiel die Klimakatastrophe.

Das müssen Sie bitte erklären.

Wir merken gar nicht, dass die Natur anders organisiert ist und das macht das Klima kaputt. Ein Beispiel sind die Schadstoffe, die wir freisetzen. Sie sind nach der Uhr organisiert, nämlich nach unserem täglichen Arbeits- und Lebensrhythmus. Dabei müssten wir uns eigentlich eher an den Jahreszeiten orientieren. Im Winter haben die Bäume hierzulande keine Blätter und können das von uns produzierte CO2 nicht absorbieren wie im Sommer. Tatsächlich produzieren wir aber im Winter sogar mehr CO2. Unsere Taktung ignoriert, dass wir Natur sind.

Was haben Sie für ein Verhältnis zur Uhr?

Die Uhr gibt mir Zeiten vor, die mich nicht zufriedenstellen. Das nervt mich eher. Dazu gehört, pünktlich sein zu müssen. Die Uhr erlebe ich deshalb als ein Herrschaftsinstrument.

Was genau hat die Uhr mit Pünktlichkeit zu tun?

Pünktlichkeit ist eine Erfindung der Uhr. Die Natur kennt keine Pünktlichkeit. Die Natur richtet sich nach dem Klima und den Bedingungen der Umwelt. Das Frühjahr geht nicht pünktlich los, sondern fängt mit dem Ausschlagen der Bäume an und das ist jedes Jahr zu einem anderen Zeitpunkt. Die Natur ist ja auch nicht unpünktlich. Wir wurden wegen der Uhr dazu erzogen, pünktlich zu sein.

Brauchen wir also Pünktlichkeit gar nicht?

Natürlich gibt es gewisse Situationen, in denen es sinnvoll ist, pünktlich zu sein. Zum Beispiel, wenn man gemeinsam was in die Wege leiten will. Heutzutage treffen wir nicht mehr Verabredungen nach Zeitpunkten, wie das die Uhr vorsieht, sondern nach Zeiträumen.

Das heißt, wenn Sie sich verabreden, machen Sie eine Zeitspanne aus?

Genau. Ich verabrede mich dann zum Beispiel zwischen zehn und elf Uhr.

Auch wenn Sie sich mit jemandem treffen?

Dann sage ich, ich komme so gegen zehn und wenn ich später komme, rufe ich an. Das ist ja heutzutage nicht mehr so, dass man pünktlich sein muss, man muss anrufen. Der Zeitpunkt reduziert demnach die Flexibilität, der Zeitraum schafft Flexibilität.

Sind wir also flexibler geworden?

Ja, und wir müssen flexibler werden. Das verlangt die Wirtschaft und unsere Umgebung. Die Bahn ist ja zum Beispiel auch flexibel.

Weil sie nicht pünktlich kommt?

Ja, aber das ist ja der Vorteil der Bahn. Die Menschen sind ja auch nicht pünktlich. Es gibt keine Untersuchungen, die zeigen, ob mehr Menschen den Zug bekommen, weil der verspätet ist. Die Flexibilität erhält uns unseren Wohlstand. Früher haben wir unseren Wohlstand erreicht, indem wir sehr pünktlich waren. Heute ist das anders. Im Unternehmen genauso wie im Familienleben. Wenn die Kindergärtnerin krank wird und das Kind nicht in den Kindergarten kann, dann muss ich umdisponieren und kann erst später im Betrieb erscheinen. Wir erreichen unseren Wohlstand also mit Flexibilität.

Gibt es eine Alternative zur Uhr?

Die Uhr ist standardisiert. Drei Uhr ist jeden Tag zur gleichen Zeit. Aber ich mache nicht jeden Tag das Gleiche um drei Uhr. Durch die Flexibilität ist die Uhr für uns nicht mehr geeignet, sondern das Mobiltelefon. In Zeiten von Internet, Medien und Smartphones organisieren wir unsere Zeit nicht mehr nach der Uhr. Die ist für die Industriegesellschaft wichtig gewesen. Aber für die Digitalgesellschaft ist die Uhr unwichtig.

Das Handy ersetzt mittlerweile bei vielen die Armbanduhr. Aber leben Menschen deswegen wirklich zeitloser?

Die Gehorsamkeit gegenüber der Uhr nimmt ab und die Gehorsamkeit gegenüber dem Handy nimmt zu.

Also haben wir einen Rollentausch?

Genau. Wir vertauschen die Medien, denen wir Gehorsam leisten. Frei werden wir dadurch also nicht. Wir wechseln nur den Herrscher. Je weniger die Uhr in unserem Leben eine Rolle spielt, desto unwichtiger wird sie.

Mit Karlheinz A. Geißler sprach Vivian Micks