Text 1 unserer vierteiligen Kurz-Text-Reihe,
von Karlheinz Geißler
02/2017

 

Geht’s um Zeit, um deren Gestaltung und Organisation werden – zumindest hat das Immanuel Kant behauptet – sich die Menschen die Glücksuche nicht ausreden lassen. Zumal sie das Gefühl nicht loslässt, das richtige Leben, das wahre Dasein ständig zu verfehlen. Kant ist nur zuzustimmen, sieht man sich den Aufwand an, den die Menschen betreiben, um ihr Zeitleben zu verbessern und in Frieden und Zufriedenheit mit jener Zeit, die ihnen irgendwann einmal das Leben kosten wird, klar zu kommen. Viele dieser Aktivitäten laufen ins Leere, ein Großteil bleibt wirkungslos, andere versanden. Lassen wir uns von diesen Misserfolgen nicht abhalten und machen auch wir uns auf die Glücksuche nach den besseren Zeiten. Tun wir es in vier Richtungen.

 

Vom Zeitnotstand zum Zeitwohlstand

Sprechen wir im Alltag von „Wohlstand“ sehen wir Menschen vor uns, denen es weder an Geld noch an Gütern fehlt, die sich relativ problemlos ihre Wünsche erfüllen können und die mehr Mittel zur Verfügung haben, als sie zum Leben brauchen. Mit einem Wort: Wohlstandsbürger haben „genug.“ Obgleich das so ist, klagen sie gerne. Es fehlt ihnen nämlich etwas Entscheidendes zu ihrem Glück und das ist Zeit. Sie leben nicht die Zeit, sie leben den Zeitmangel, die ungeliebte Tochter ihres Wohlstandes. Die Reichen kennen die Zeit nur als knappe Frist, als Deadline und als das, was ihnen fehlt: „Tut mir leid, keine Zeit!“.
Sie alle leiden an „Angina temporis“. Zeitwohlstand kennt man in dieser unserer Hochgeschwindigkeitsgesellschaft, in der man sich sogar die Nasen mit Tempo putzt, nur als Sehnsucht und als schöne
Hoffnung. Die Literatur eines Rabelais, eines Robert Walser, eines Hermann Hesse, eines Stan Nadolny, sie lebt von dieser Sehnsucht, und die Leser und Leserinnen dieser Literatur leben ihre Hoffnungen und Wünsche nach Zeitwohlstand durch die Lektüre aus.

Materieller Wohlstand, das beweisen die Klagen der Wohlhabenden über den Zeitmangel, macht weder zufrieden, noch garantiert er eine erfüllte Lebensqualität. Geld- und Güterwohlstand sind durch Zeitnotstand erkauft. Zeitnöte sind es denn auch, die es den Wohlhabenden verwehren, ihren materiellen Reichtum genießen zu können.

Anders wäre es, würden wir das, was wir unter Wohlstand verstehen, nicht nur auf Geld- und Güterwohlstand beschränken, wenn es auch einen  Reichtum und eine Vielfalt an lebendigen Zeitformen und Zeitqualitäten einschlösse. Eine solche Zeitwohlstandsgesellschaft könnte ihren Mitgliedern Spielräume eröffnen, Eigenzeiten zu leben, mit Zeitvorgaben elastisch umzugehen und das ihnen angenehme und angepasste Tempo zu bestimmen, sich und ihr Umfeld rhythmisch zu organisieren und darüber hinaus ihre Zeitsouveränität zu erweitern.

In einer Gesellschaft, die Zeitwohlstand zum Ziel hat, sind Menschen mehr als geldverdienende Wesen. Zeitwohlstand anzustreben, hieße die derzeit wirkmächtige Vorstellung von „Wohlstand“ um die Kategorien des Wohlbehagens und Wohlbefindens zu erweitern. Das wiederum würde uns von dem Schicksal erlösen, uns Tag für Tag abzuplagen, um die Mittel zum guten Leben zu erwerben, aus Zeitmangel aber gezwungen ist, auf die Verwirklichung des guten Lebens verzichten zu müssen.

Was Zeitwohlstand ist, weiß eigentlich jeder Mensch und jeder Mensch weiß auch, wie er gelebt werden könnte. Allein, man hat oder nimmt sich zu wenig Zeit, das Wissen praktisch werden zu lassen. Eine erfreuliche Ausnahme – zugleich ein Beispiel wie man es machen kann – ist jener namentlich unbekannte Bahnreisende der dem Zugbegleiter demonstriert hat, wie Zeitsouveränität aussehen könnte:

In einem dieser schnellen Züge, die unser Land durchqueren, in denen den Passagieren wegen der vielen Tunneldurchfahrten Sehen und Hören vergeht, stellt der die Fahrkarten kontrollierende Zugbegleiter bei einem der Passagiere fest, dass dieser nicht den für diesen schnellen Zug erforderlichen „besonderen Fahrschein“ hat. Er bittet ihn, den fehlenden Betrag nachzuzahlen. Auf die Frage des Passagiers, warum dies denn nötig sei antwortete der Zugbegleiter: „Weil dies ein so schneller Zug ist“. Die zeitsouveräne Reaktion des Fahrgastes: „Dann fahren Sie doch langsamer“.

Wohl dem, der sich solche Antworten leisten kann, er lebt im Zeitwohlstand.

 

 

Die nächsten Texte aus der Reihe erscheinen mit jeweils einer Woche Abstand.